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Digitalisierung & KI

Standpunkte Tech for Fortschritt

Geoff Mulgan (Nesta)
Geoff Mulgan (Nesta) Foto: Privat

Eine aggressivere Wettbewerbspolitik reicht im Umgang mit digitalen Plattformen allein nicht aus. Stattdessen muss die Politik eine Balance zwischen Regieren und Regulieren finden, schreibt Geoff Mulgan, der CEO von Nesta, in seinem Standpunkt.

von Geoff Mulgan

veröffentlicht am 20.11.2019

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Milliarden von Menschen nutzen tagtäglich digitale Technologien. Aber es verging bemerkenswert viel Zeit, bis diese als gesellschaftspolitisches Thema ins Zentrum der Öffentlichkeit rückten. Lange genügte es Politikern, das Internet und World Wide Web halbherzig zu fördern – oder sie ließen sich mit Persönlichkeiten wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg ablichten, um irgendwie modern zu wirken.

Inzwischen wird technologischer Fortschritt mit einer Mischung aus Hoffnung und Argwohn betrachtet. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Datenmissbrauch in bisher unbekanntem Ausmaß, Steuerflucht, Millionen bedrohter Arbeitsplätze – und nicht zuletzt das Gefühl, dass die großen Plattformkonzerne von coolen Rebellen zu einer verantwortungslosen Elite mutiert sind, der es an einem moralischen Kompass fehlt.

Keine einfachen Lösungen für Digitalisierung 

Die US-Präsidentschaftsbewerber und -bewerberinnen der Demokratischen Partei überbieten sich gegenseitig mit Versprechen, Facebook zu zerschlagen. Die britische Labour-Partei versprach erst letzte Woche die Verstaatlichung des größten Breitbandanbieter des Landes, um den Bürgern einen freien Internetzugang zu bieten – verbunden mit einer Reihe von Versprechen, dass die Bürger und Bürgerinnen die Kontrolle über ihre Daten zurückerlangen sollen.

Nicht viele Politiker verstehen Technologie, und nicht viele Entwickler verstehen viel von Politik. In dieser Gemengelage aus Vernachlässigung seitens der Politik und mangelnden Verständnis kann es schnell zu gefährlichen Fehleinschätzungen und Überreaktionen kommen. Aber nationale Regierungen stehen vor drei unausweichlichen Herausforderungen, für die es keine einfachen Lösungen gibt.

Europa im Technologie-Abseits

Die erste Herausforderung ist es, den Anschluss nicht zu verlieren. Europa hat in den letzten 20 Jahren weitestgehend vom Seitenaus beobachtet, wie US-amerikanische Firmen den Markt dominiert haben. Microsoft, Amazon, Google und Apple gehören heute zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Auch chinesische Firmen wie Tencent, Alibaba und Huawei werden zunehmend global aktiv. Je wichtiger Künstliche Intelligenz (KI) für die Wertschöpfung wird, desto weiter droht Europa, an den Rand gedrängt zu werden.

Fidel Castro hat einmal gesagt, dass das Einzige, was schlimmer ist, als vom multinationalen Kapitalismus ausgebeutet zu werden, ist, nicht vom multinationalen Kapitalismus ausgebeutet zu werden. Genauso könnte es sich als fataler Fehler erweisen, auf eigene digitale Monopole zu verzichten.

Aggressivere Wettbewerbspolitik allein reicht nicht

Europa braucht eine aktivere Industriepolitik, um einheimische Alternativen zu stärken. Die jüngsten Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron deuten darauf hin, dass wir vor einer Zäsur stehen. Es wird wahrscheinlich eine aggressivere Wettbewerbspolitik mit dem Ziel geben, Monopole aufzubrechen und Konzerne zu zwingen, ihre Daten und Algorithmen transparent zu machen, wie es im Bankwesen bereits geschieht. Es wird mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie größere Bemühungen geben, Start-ups und Scale-ups zu fördern.

Aber dies sind nur einige der Maßnahmen, die Europa ergreifen muss, wenn es im globalen Wettbewerb den Anschluss nicht verlieren und die kommende industrielle Revolution nicht nur annehmen, sondern auch mitgestalten möchte. 

Die zweite Herausforderung ist das Regieren und Regulieren. Wesentlich ist hierbei der Umgang mit Daten. Europa hat bereits eine eigene Datenschutzgrundverordnung. Aber um Daten im öffentlichen Interesse zu verwalten, bedarf es einer Reihe neuer Instrumente, die die Vorteile der Datenvernetzung in Einklang mit dem Recht auf Privatsphäre bringen – sei es im Bereich der Forschung, der Finanzen oder zur Steuerung des städtischen Verkehrs.

Ein noch wichtigeres Thema ist Künstliche Intelligenz. Großbritannien hat in einem ersten zaghaften Schritt eine neue Regierungsbehörde geschaffen, die sich mit Themen wie Gesichtserkennung oder Mikrotargeting beschäftigt. Entscheidend wird aber sein, dass wir uns nicht nur auf Gesetze und Prinzipien verlassen. Stattdessen brauchen wir verantwortungsbewusste Behörden, die die Expertise und Autorität besitzen, um differenzierte und faire Entscheidungen zu treffen.

Die dritte Herausforderung besteht darin, technologischen Fortschritt und gesellschaftlichen Mehrwert zusammen zu denken. Im Gegensatz zur letzten Generation verfügen Regierungen heutzutage über mächtigere Instrumente: Instrumente, mit denen sich verfolgen, kartieren, interpretieren, vorhersagen und experimentieren lässt. All dies ist anfällig für Missbrauch. Wenn sie jedoch richtig verwendet werden, bieten sich bahnbrechende Möglichkeiten zur Lösung von komplexen Problemen. Der Klimawandel macht deutlich, dass wir unsere kollektive Intelligenz besser organisieren müssen, um den notwendigen ökonomischen Wandel zu gestalten und unser Verhalten besser zu verstehen und zu ändern.

Gestalten der technologischen Entwicklung Aufgabe der Politik

Es kann gut sein, dass Politik zukünftig weiter im Spannungsfeld zwischen naivem Tech-Futurismus und reaktivem und pessimistischem technologischen Fortschrittsdenken gefangen ist. Aber Erfahrungen mit älteren Technologien wie dem Auto, Telefon und der Atomkraft lehren uns, dass menschliche Erfindungen immer zugleich Versprechen und Bedrohung sind. Es ist Aufgabe der Politik, die technologische Entwicklung so zu gestalten, dass der gesellschaftliche Nutzen die potenziellen Kosten überwiegen. 

Ich hoffe, wir werden darin noch besser werden. Falls wir es schaffen, sind wir auf das vorbereitet, was sich bereits jetzt als politische Jahrhundertaufgabe ankündigt – und sich als immaterielles Bild der materiellen Herausforderung unserer Zeit spiegelt: die Reduzierung unseres CO2-Ausstoßes. Zentral ist die Frage, wie wir immer mächtigere Formen maschineller Intelligenz so gestalten, dass sie uns dienen und unsere Werte verkörpern, anstatt uns zu unterwerfen und zu spalten.

Geoff Mulgan ist der CEO der britischen Stiftung für Innovation „Nesta“. Darüber hinaus berät er das Weltwirtschaftsforum und ist Gastprofessor an der London School of Economics, UCL und University College London. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkt gehören neue Technologien und soziale Innovationen.

Morgen hält er die Keynote bei der Veranstaltung „Welche neuen Technologien braucht gesellschaftlicher Fortschritt?“ des Think-Tanks Das Progressive Zentrum in Berlin (ab 17.30 Uhr im SKPlab am Gendarmenmarkt). Eine Anmeldung ist heute noch bis 12:00 Uhr möglich. Übersetzung aus dem Englischen: Tobias Gralke und Stella Conard, Das Progressive Zentrum.

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