„Das was also bislang Öffentlichkeit war, wird heute mehr und mehr durch die sozialen Medien ersetzt.“
Von wem stammt dieser Satz? Von Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg? Twitter-Gründer Jack Dorsey? Oder irgendeinem anderen Social-Media-Guru? Nein. Er stand im „Spiegel“. Dem gedruckten. Auf Papier. Dass das sogenannte und selbsternannte Sturmgeschütz der Demokratie anerkennt, nicht mehr Gatekeeper und Agenda Setter der öffentlichen Meinung zu sein, ist in dieser Klarheit erstaunlich – und natürlich vollkommen richtig. Wenn die Medien die vierte Gewalt sind (waren?), ist Social Media die fünfte. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) brauchte noch „BILD, BAMS und Glotze“ zum Gewinnen von Wahlen. Und was braucht Donald Trump heute, um zum mächtigsten Mann der Welt zu werden – und es zu bleiben? Nur Twitter.
CNN: 41.985.164 Follower
NYTimes: 43.466.133 Follower
Trump: 60.603.995 Follower
Was also beim „Spiegel“ und bei Politikern auf der ganzen Welt – Donald Trump, Sebastian Kurz, Wolodymyr Selenskyj und so weiter – angekommen ist, hat in Deutschland noch keine Partei wirklich begriffen. Mit Ausnahme der AfD. Leider.
Es ist nun mal so: Die dunkle Seite der Macht versteht die Möglichkeit neuer Medien intuitiv besser und schneller. Erstmal aus der Notwendigkeit heraus, ein Forum für die eigenen, radikalen Themen zu bekommen. Denn: Die traditionellen Medien sind nicht bereit, deren Narrative zu verbreiten. Dazu kommt: Zugespitzte und emotionale Beiträge und Thesen werden von den Algorithmen der Plattformen – noch systemimmanent – mit Reichweite belohnt. Kurz: Was verstärkt kommentiert, geliked, geshared wird, wird sichtbarer. Das spielt den Radikalen in die Hände. Stichwort: Fake News.
Schweigen löst keine mediale Krise
Potenziert wird der Trend von der Starre und Unfähigkeit der etablierten Parteien in Deutschland. Deren Reaktion auf das Neue? Sie reagieren mit dem Kommunikations-Regelbuch der alten Welt. Abwarten, Beraten, Gremien, Abstimmungsschleifen, Aussitzen. Nur, das funktioniert heute in den sozialen Netzwerken nicht mehr. Schweigen löst keine mediale Krise. Im Gegenteil: Sie verstärkt sie – und zwar massiv.
Wie zerstörerisch das falsche Kommunikations-Management in Zeiten von Social Media und der allgemein falsche Umgang mit den Netzwerken sein kann, zeigt das Ergebnis der Europawahl. Jetzt sind plötzlich alle ganz aufgeschreckt. Weil sie sehen welchen politischen Einfluss ein Youtuber mit blauen Haaren und ein kluges Mädchen mit Namen Greta haben können, beide mit Smartphone und großen Ideen bewaffnet, aber ohne Parteizugehörigkeit.
Dabei ist jedes disruptive politische Phänomen heute Social Media getrieben: Brexit, Gelbwesten und immer wieder Trump. Ein amerikanischer Präsident Trump wäre ohne Twitter niemals denkbar gewesen. Er wäre von den klassischen Medien ausgelacht worden, zur Witzfigur degradiert worden – und hätte nicht mal die Vorwahlen gewonnen. Heute regiert er und setzt Themen via Twitter. Und alle folgen. Kann man gut finden. Und ganz schrecklich.
Fakt ist es dennoch: In Deutschland hätte die FDP ihr Comeback in den Bundestag nicht ohne Facebook geschafft. Es war das legendäre Wut-Video von Christian Lindner, das die Partei erstmalig wieder in die Timelines und in das kollektive Gedächtnis der Wahlberechtigten spülte. Die kommunikative Fokussierung auf Social Media sorgte übrigens nicht nur für den Wiedereinzug, sondern auch dafür, dass die FDP bei den Erstwählern am stärksten zunahm: Von 5 auf 13 Prozent!
Pressespiegel ist Trumpf
Man muss es leider so sagen: Keine Partei in Deutschland hat es wirklich verstanden. Die meisten behandeln Social Media als etwas Lästiges. Der morgendliche Pressespiegel ist dagegen heilig. Dass der eine falsche oder zumindest nur einen, immer kleiner werdenden Teil der öffentlichen Meinung spiegelt, wird ausgeblendet. Das Traurige: Selbst die Parteien die auf Social Media aktiv präsent sind, machen es bemerkenswert mittelprächtig. Sind meilenweit davon entfernt, die Netzwerke schlau, angemessen und effizient zu nutzen. Außer für wenige Politiker wie Lars Klingbeil (SPD) und Dorothee Bär (CSU) ist für die meisten Twitter nur eine Verlängerung der Pressestelle. Ohne jede erkennbare Strategie werden ungelenke Fotos von Wahlständen aus Fußgängerzonen gepostet. Oder Pressemitteilungen. Oder Banales wie „Hallo aus Celle!“.
Weniger Urlaubsbilder, mehr Strategie
Auch der Fehlglaube mit peinlichen privaten Einblicken automatisch Wähler gewinnen zu können ist erschreckend weit verbreitet. Einblicke in die eigene Welt sind gut. Aber es müssen eben die Richtigen sein. Wenn die Shootingfrau der US-Demokratischen Partei Alexandria Ocasio-Cortez mit einem Glas Wein in der Hand live auf Instagram Möbel aufbaut und dabei mit Millionen jungen Menschen über Politik diskutiert ist das eben kein privater Einblick. Sondern eine starke politische Message: Ich bin so wie ihr. Ich nehme euch ernst. Ich rede mit euch. Ich höre euch zu. Und: ich verstehe euch! Was kriegen wir hier in Deutschland? Urlaubsbilder von Johannes Kahrs (SPD) in einer zu kurzen Hose im Strandkorb.
Keine Strategie, kein Dialog, keine Idee. Nichts. Nirgendwo. Auch die Möglichkeit über Social Media eine große Masse an für mich und mein politisches Ziel relevanten Menschen mit Inhalten zu erreichen die sie ganz persönlich tangieren wird nicht genutzt. Stattdessen wird mit der Gießkanne weiter für alle der gleiche Inhalt verbreitet. Oft auch noch der gleiche Inhalt in gleicher Form über alle Kanäle. Dass die User an Facebook, Twitter, Instagram & Co. jeweils vollkommen andere Ansprüche haben wird nicht berücksichtigt.
Social Media bietet die Möglichkeit, Unentschlossene zu identifizieren. Und mit ihnen zu kommunizieren. Das hat nichts mit Cambridge Analytica zu tun. Sondern damit, sein Publikum schlau zu wählen. „Preaching to the converted“ macht keinen Sinn. Warum soll ich aus einem 100-prozentigen Anhänger einen 150-prozentigen machen? Oder warum soll ich jemanden beschallen, der mich niemals wählen würde? Das strategische Bespielen der Unentschlossen und Unsicheren wird nicht betrieben. Das ist fahrlässig. Denn die neuen Mitbewerber werden es tun.
Wer den Eisberg nicht sieht, geht unter
In der Wirtschaft sehen wir folgendes Phänomen. Die Disrupter, die die ehemaligen Platzhirsche zerstören, kommen nicht aus der eigenen Branche. Mercedes hat mehr Angst vor Apple und Uber. Nicht vor Volkswagen. Das gleiche wird in der Politik passieren beziehungsweise passiert jetzt schon. Man stelle sich nur einmal vor, ein neuer politischer Player mit der Medienkompetenz und Reichweite wie Rezo oder Trump betritt das deutsche politische Spielfeld. Ruft nicht mehr zum Boykott auf. Sondern zur Wahl. Für sich selbst. Dann sehen die Altparteien wirklich alt aus.
Was zu tun ist? Nicht aktivistisch ein paar hippe Leute einstellen. Ein paar Flachbildfernseher an die Wand hängen und Newsroom spielen. Sondern die gesamte Kommunikation überdenken. Anders und neu leben. Den morgendlichen Pressespiegel vielleicht nicht gleich wegschmeißen, aber zumindest durch ein Social Reporting gleichwertig erweitern. Aber vor allem: Den Kern von Social Media endlich verstehen und leben: Dialog. Augenhöhe. Echtzeit. Haltung. Klarheit.
Von Youtuber Casey Neistat, sowas wie der Rezo aus Amerika, stammt folgender Satz: „We are the Iceberg and those who don’t get it are on the top deck of Titanic drinking champagne.“ Er hat recht.
Philipp Jessen ist Geschäftsführer von Storymachine. Der vormalige Chef von Stern.de hat das Start-up 2017 gemeinsam mit dem ehemaligen „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann und dem Unternehmer Michael Mronz gegründet. Storymachine bietet auf Social Media spezialisierte Kommunikationsberatung.