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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wie viel Regulierung verträgt Europas Innovationskraft?

Hendrik Reese, Partner bei PWC Deutschland
Hendrik Reese, Partner bei PWC Deutschland Foto: Privat

Regulierung verhindert Innovation – das ist eine Binse in der Digitalbranche. Der AI Act verhindert demnach, dass EU-Unternehmen Künstliche Intelligenz (KI) entwickeln. Wie viel dran ist an dieser Sorge und warum „Applied AI made in Europe“ ein neues Gütesiegel werden könnte, schreibt Hendrik Reese von PWC.

von Hendrik Reese

veröffentlicht am 27.01.2025

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In Diskussionen um den AI Act gibt es einige kritische Stimmen: Die EU bremse die KI-Transformation mit Regulierungen, bevor sie begonnen habe. Forschungsexzellenz treffe auf ethische Bedenken, Innovationsdrang auf Unsicherheit. Gleichzeitig würden regulatorische Vorgaben für bürokratischen Mehraufwand sorgen.

Doch wie sähe die deutsche Wirtschaft ohne Regulierung aus? Stellen wir uns vor, der Bürokratieweltmeister Deutschland schafft heute alles ab. Keine Datenschutzgrundverordnung, kein IT-Sicherheitsgesetz, kein AI Act. Wachen wir morgen im Innovationsparadies auf? Sind wir dann Spitzenreiter bei der Implementierung von Künstlicher Intelligenz?

Regulierung: Innovationsbremse oder notwendige Leitplanke?

Schon im 19. Jahrhundert wurde die preußische Dampfkesselverordnung erlassen, um nach mehreren schweren Unfällen die Sicherheit von Dampfkesseln in industriellen Anlagen und Dampfmaschinen zu gewährleisten. Hersteller überarbeiteten die Technik und Deutschland wurde aufgrund der hohen Sicherheitsstandards zum gefragten Exporteur mit einer Verdoppelung des BIP im Zeitraum von 1870 bis 1900. Die Gesellschaft zur Überwachung und Versicherung von Dampfkesseln wurde gegründet – der Grundstein für die heutige TÜV-Prüfung. Schon damals wusste man, dass langfristige Wertschöpfung auf einem sicheren Fundament errichtet werden muss. Und das gilt bis heute.

Keine Frage: Wir müssen in Deutschland die Innovationsgeschwindigkeit fördern. Aber Tempo erfordert auch Sicherheit. Deswegen hat ein Sportwagen auch bessere Bremsen als ein Kleinwagen. Allein der Abbau von Regulierungen wird uns nicht helfen. Vielmehr brauchen wir eine zielgerichtete Regulierung und pragmatische Umsetzung. Dem Sportwagenhersteller vorzuschreiben, nur noch Nutzfahrzeugmotoren einzubauen, wäre das Gegenteil davon.

Haben wir in Deutschland zu viel Bürokratie? Ja. Müssen wir darüber sprechen, wie wir den bürokratischen Aufwand reduzieren und effizienter gestalten können? Auch das. Das „One in, two out“-Prinzip könnte den Regulierungsdschungel beispielsweise lichten. Wenn für eine neue Regelung, insbesondere mit digitalen Möglichkeiten wie jüngst in der Arbeitszeiterfassung, zwei alte gestrichen werden, wird das die Vereinfachung befeuern. Fast-Track-Verfahren, etwa vereinfachte Antragsprüfung bei Bau- und Großprojekten könnten Genehmigungen beschleunigen. Und Zwischenprüfungen, etwa im Umwelt- oder Arbeitsschutz, ließen sich durch automatische Verlängerungen bei unveränderten Bedingungen einsparen. Oder auch im Start-up- und Innovationsumfeld einen rascheren und unbürokratischeren Zugang zu Förderungen zu schaffen, wäre ein wichtiger Schritt.

Aber die Konsequenzen, wenn wir den AI Act streichen, stehen bei Weitem nicht im Verhältnis mit dem bürokratischen Aufwand. Eine so tiefgreifende und revolutionäre Entwicklung wie Künstliche Intelligenz braucht Leitplanken. Wir benötigen von Beginn an Rechts- und Planungssicherheit. Um potenzielle Risiken und den missbräuchlichen Einsatz der Technologie einzudämmen. Aber auch, um Innovation zielgerichtet voranzutreiben.

Vertrauen stärken, zukunftsweisend umsetzen

Wie bei den Dampfkesseln müssen wir auch bei Künstlicher Intelligenz das Vertrauen in die Technologie stärken und in die Anwendung kommen. Und das gelingt durch hohe Standards. Der AI Act klassifiziert KI-Systeme nach Risikogruppen und schafft damit grundsätzlich Orientierung für Unternehmen, indem sich Anforderungen nach Risikoklassen ableiten sollen. Hier muss der Interpretationsspielraum reduziert werden. Notwendig sind klare Orientierungshilfen, um Unsicherheiten zu reduzieren und eine pragmatische Umsetzung zu fördern. Durch diese Vorgaben wird gewährleistet, dass KI-Systeme vor ihrem Einsatz bestimmte Qualitäts- und Sicherheitskriterien erfüllen. Das schafft Sicherheit und Transparenz für Unternehmen.

Zusätzlich sollten wir uns fragen, wie sich die Vorgaben innovationsfreundlich umsetzen lassen. Start-ups und der Mittelstand müssen gefördert werden, beispielsweise durch gezielte Erleichterungen bei der Dokumentationspflicht. Ebenso wie durch flexible Standardansätze für die Qualitätssicherung von KI-Systemen oder die Möglichkeit, durch delegierte Rechtsakte zeitnah Anpassungen vorzunehmen – auf Grundlage eines transparenten Dialogs mit der Wirtschaft. Nicht zuletzt müssen wir einen Weg finden, unsere exzellente Forschungsarbeit in marktfähige Produkte zu überführen. Eine zentrale Lösung aus meiner Sicht: Innovationsökosysteme etablieren und Regulatory Sandboxes als elementare Bausteine für eine innovationsorientierte Umsetzung von Regulierung stärken.

Applied AI Made in Europe

Statt uns dahinter zu verstecken, dass die Regulierung wieder einmal die Innovationskraft behindere, sollten wir die sichere Implementierung von KI vorantreiben. Schließlich mangelt es Deutschland nicht an Einsatzbereichen: Von der Optimierung erneuerbarer Energiesysteme über das Erkennen von Betrugsmustern in der Finanzbranche bis zur verbesserten Diagnostik im Gesundheitswesen. Diese Beispiele unterstreichen, dass das Feld an Anwendungsfällen breit ist, in denen der Einsatz sicher Systeme maßgeblich ist. Damit wir die Chancen, die KI uns bietet, auch sicher und langfristig effizient nutzen können, ist es umso wichtiger, den Mehrwert regulatorischer Leitplanken zu erkennen.

Dazu müssen alle Akteure ihren Teil beitragen: Die Politik sollte eine flexible und innovationsfreundliche Umsetzung des AI Acts fördern. Neuwahlen und Regierungsbildungen dürfen uns dabei nicht bremsen. Unternehmen sind dazu aufgerufen, ihre Prozesse und Geschäftsmodelle kritisch zu prüfen und mutig neue Use Cases zu entwickeln. Und die Forschung muss noch stärker mit der Industrie in den Austausch treten, um KI-Lösungen erfolgreich in die Praxis zu bringen.

Wenn wir ohne Regulierungen in die Implementierungen gehen, nur um später festzustellen, dass bestimmte Anwendungen grundlegende Anforderungen nicht erfüllen oder gar durch Schäden die Akzeptanz sinkt, hat niemand etwas davon. Im schlechtesten Fall kostet solch ein temporärer Vorsprung nicht nur viel Geld, sondern auch Reputation. Wenn wir uns dagegen an die Dampfkessel erinnern, können Deutschland und Europa mit dem AI Act neue Standards prägen und so zum globalen Vorreiter für vertrauenswürdige und innovative KI-Anwendungen werden. „Applied AI made in Europe“ als neues Qualitätssiegel – für KI-Systeme, die nicht nur leistungsfähig und vertrauenswürdig sind, sondern auch für unsere europäischen Werte stehen.

Hendrik Reese ist Partner bei PWC Deutschland mit über 20 Jahren Erfahrung in der Digitalberatung von Cyber Security über Cloud bis hin zu Künstlicher Intelligenz. Er berät und unterstützt Kunden in der Umsetzung von AI Compliance und Governance.

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