Ganz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße findet sich das Kulturkaufhaus Dussmann. Diese große Buchhandlung ist die erste Adresse des politischen Berlins auf der Suche nach neuestem Lesestoff. In der obersten Etage befindet sich eine Auswahl neuester politischer Erscheinungen und Klassiker. Man trifft dort öfter politische Referenten und politisch Interessierte. Seit geraumer Zeit findet man dort aber noch etwas: Ein ganzes Wandregal nur mit Büchern zur Digitalisierung. Das ist wahrscheinlich einmalig für eine Buchhandlung in Deutschland. Auf den zweiten Blick verwundert das weniger. Wenn es in Deutschland eine Stadt gibt, die eine Start-up-Kultur pflegt, dann ist es Berlin.
Digitalwirtschaft hat Zukunft, aber Deutschland lebt Tradition
Laut einer Analyse der Investitionsbank Berlin boomt die Berliner Digitalwirtschaft, Umsatz und Beschäftigung stiegen zuletzt kräftig an. Auch der Gesamttrend macht die Bedeutung der Digitalwirtschaft für Berlin deutlich: Im Zeitraum 2008 bis 2017 sind 14 Prozent aller neuen Arbeitsplätze – jeder siebte Berliner Job – in der Digitalwirtschaft entstanden, heißt es bei der Investitionsbank. International bekannte Start-ups prägen langsam ein neues Ökosystem in der Hauptstadt.
Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, dass diese Digitalwirtschaft die einzige Zukunft für Deutschland ist. Denn dem ist nicht so. Der deutsche Strukturkonservatismus, den das deutsche Wirtschaftsmodell mit seinem Fokus auf Maschinen, Chemie, Elektroindustrie und Autoindustrie prägt, ist seit Jahrzehnten ziemlich konstant. In Deutschland verbessert man seine Produkte und Prozesse. Man erfindet zwar auch Neues. Aber das sind meist Innovationen, die etwas mit den genannten Branchen zu tun haben. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, das ist für die deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten ein Erfolgsmodell. Es wäre irrsinnig, das nun alles über Bord werfen.
Digitale Evolution statt Revolution
Deswegen wird in Deutschland auch zu Recht wenig von einer digitalen „Revolution“ gesprochen und stattdessen eher von der Evolution der deutschen Industrie zu einer Industrie 4.0. Digitale Fabriken und digitale Produktion sind ein größeres Thema als die Frage danach, wann wir endlich ein deutsches Google und Facebook bekommen.
Die Industrie steht in der deutschen Wirtschaft im Zentrum. Um diese wird sich deutsche Digitalpolitik also primär kümmern müssen. Wie kann die Industrie ihre international bedeutende Stellung bewahren? Wie können Arbeitsplätze gesichert und weiterentwickelt werden? Darauf muss die Wirtschaftspolitik primär Antworten liefern. Vor allem dann, wenn die Politik mit aktiver Industriepolitik die Weichen stellt, besteht eine gute Chance von der Digitalisierung zu profitieren. Aber eben auch nur dann. In Digitalisierungs-Euphorie sollte man angesichts der kommenden Herausforderungen jedenfalls nicht verfallen.
Die erste Frage ist also nicht, wann wir endlich mehr disruptives Denken in den Köpfen hierzulande verankern, damit wir ein deutsches Facebook bekommen. Man sollte nicht so naiv sein, zu denken, dass eine Kopie des Silicon Valley der richtige Weg für das deutsche Wirtschaftsmodell sei.
Berlins digitales Ökosystem braucht einen Innovationsherd
Aber lassen wir diese Grundsatzfrage mal außer Acht und beschäftigen uns mit der Frage, was man eigentlich tun muss, damit überhaupt ein Ökosystem vergleichbar mit dem Silicon Valley in Deutschland entsteht. Und dann sind wir bei Berlin.
Was tut eigentlich das Land Berlin dafür, die Digitalwirtschaft zu entwickeln? Informiert man sich auf Berliner Behörden-Seiten, erfährt man, dass es zum Beispiel seit 2015 die „Berlin Startup-Unit“ gibt, die junge Digitalunternehmen fördern soll. Des Weiteren gibt es einen bunten Strauß aus Förderprogrammen und Wettbewerben. Das ist sicher alles ganz nett, ein deutsches Silicon Valley bekommt man aber so nicht. Aber wie dann?
Die Antwort ist einfach: Ohne einen Zellkern kann die Zelle nicht wachsen, etwas muss im Zentrum stehen. Und im Fall des Silicon Valley ist es die Universität Stanford. Die Uni und ihr Campus sind der Kern des Ökosystems, ohne den es das Silicon Valley nicht gäbe. Das heißt: Ohne eine staatlich-öffentliche Infrastruktur gibt es kein digitales Ökosystem. Daraus sollte Deutschland lernen.
Eine neue Rolle für die TU Berlin?
Deutschland braucht ebenfalls ein Stanford. Und das muss mit Geld des Staates finanziert werden. Wo und wie? Mein Vorschlag: Man sollte die bisherige Technische Universität Berlin schließen und neu gründen. Auf Basis und Verwaltungsstruktur der TU sollte eine neue Berliner Universität gegründet werden. Und zwar das BIT (Berlin Institute of Technology). Die MINT-Fächer und deren Institute an den drei Berliner Universitäten sollten dafür ausgegliedert und in eine neue Universität überführt werden.
Das wird viel Geld kosten. Dazu werden fünf Milliarden Euro oder mehr in die Hand genommen werden müssen. Der Campus des BIT sollte auf dem Tempelhofer Feld errichtet werden. Das könnte dann ein Stanford 2.0 werden. So kann auch in Berlin ein Ökosystem entstehen – und nach 15 Jahren dann ein Silicon Valley 2.0.
Wenn die Berliner Politik und der Bund sich zu dieser – hier mal in der Tat für deutsche Verhältnisse revolutionären – Maßnahme durchringen würden, würden sie eine wirtschaftspolitische Entscheidung für Generationen treffen. So ein revolutionärer Plan würde ohne Frage allzu schnell Nörgler auf den Plan rufen. Angefangen bei der Ortsfrage auf dem Tempelhofer Feld – dessen Bebauung bekannterweise umstritten ist. Aber mit Kritikern muss man immer rechnen. Mut und Vision erfordern zuweilen etwas Starrsinn und Hartnäckigkeit.
Wenn man nun zuletzt parteipolitisch denken darf: Für keine andere Partei ist dieser wirtschaftspolitische Plan zur Gründung eines deutschen Stanfords so geeignet wie für die deutsche Sozialdemokratie. Ihre wirtschaftspolitische Ideenlosigkeit muss enden. Eine Ideenlosigkeit, die von der Bevölkerung nicht unbemerkt bleibt: Nur noch neun Prozent der Menschen in diesem Land trauen ihnen noch „Wirtschaftskompetenz“ zu.
Ein deutsches Stanford in Berlin wäre da eine Idee. Eine durchaus disruptive, revolutionäre Idee dazu. Die einzige Frage ist nun noch: Wie viel Revolutionsgeist und wie viel Mut zu Neuem steckt noch in dieser SPD?
Nils Heisterhagen arbeitet als Publizist und war Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag ist Teil seines Buches „Das Streben nach Freiheit“, das im Dietz Verlag erschienen ist. Der Beitrag wurde zuvor im „Cicero“ veröffentlicht.