Niemand ist Prophet. Aber das Jahr 2020 wird nicht nur als Corona-Jahr in die Geschichte eingehen, sondern auch als wichtiger Meilenstein für die Energiewende und den Klimaschutz in Deutschland und Europa. Denn unter dem Eindruck einer sich anbahnenden Wirtschaftskrise hat die Politik in Deutschland und Europa in kurzer Abfolge einige wichtige energie- und klimapolitische Maßnahmen auf den Weg gebracht und mit dem European Green Deal ein großes Ziel vorgegeben.
Im ersten Halbjahr 2020 konnte der Stromverbrauch in Deutschland schon zur Hälfte aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Das ist zum Teil dem Lockdown-bedingten Rückgang im industriellen Stromverbrauch und günstigen Witterungsbedingungen geschuldet. Dennoch haben diese Zahlen eine symbolische Kraft. Sie signalisieren, dass die erneuerbaren Energien die neue Normalität der Stromversorgung darstellen
Angesichts dieses Transformationsprozesses hat 50Hertz eine Initiative mit dem Titel „von 60 auf 100 bis 2032 – für eine Wirtschaft mit Zukunft“ gestartet. Damit wollen wir alles in unserem Einfluss- und Handlungsbereich stehende dafür tun, bis zum Jahr 2032 den gesamten Stromverbrauch in unserem Netzgebiet – also Ostdeutschland und Hamburg – über das Jahr gerechnet zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien decken zu können. Bisher sind dies 60 Prozent. Natürlich integrieren wir auch nach 2032 den in verbleibenden konventionellen Kraftwerken erzeugten Strom. Aber in der sicheren Integration dieser hohen Anteile volatiler Erneuerbarer Energien in Netz, System und Markt sehen wir die Zukunft – für unser Unternehmen und für unser Netzgebiet.
Für diese offensive Unternehmensstrategie gibt es drei gute Gründe:
1. Die Stromnetze – und damit sind grundsätzlich die Verteil- wie die Übertragungsnetze gemeint – entwickeln sich immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt der Energiewende und sind damit zentraler Klimaschutz-Faktor. Sie müssen optimiert, verstärkt und ausgebaut werden, um den steigenden Anteil von Strom aus fluktuierenden Stromquellen aufnehmen und transportieren zu können und um als Schnittstelle zu Energieanwendungen fungieren zu können, die bisher auf fossilen Kraft- oder Brennstoffen basierten.
2. Die Sektorkopplung wird mit Wasserstoff um einen weiteren Energieträger erweitert, der zu seiner Herstellung sehr viel Strom benötigt. Ob dafür Solarenergie aus anderen Regionen der Welt oder Offshore-Windkraft vor den europäischen Küsten genutzt wird, sind wichtige Infrastrukturfragen, die ohne eine aktive Rolle von Netzbetreibern nicht effizient gelöst werden können.
3. Die energieintensiven Industrien und auch die neuen Digitalindustrien brauchen „grünen“ Strom, wenn sie zukünftig in Deutschland und Europa klimaneutral produzieren wollen – und das wollen sie. In den Bundesländern des 50Hertz-Netzgebietes sind rund 800.000 Menschen unmittelbar in der Industrie beschäftigt – 75.000 mehr als noch vor zehn Jahren. All diese Industrien werden zukünftig dort bleiben wollen oder neue sich dort ansiedeln, wo sie ihren Strombedarf vollständig aus erneuerbaren Energien decken können. Der Automobilhersteller Tesla und seine Zulieferbetriebe sind hier nur die Vorreiter.
Mecklenburg-Vorpommern ist ein schlafender Wind-Riese
Diese Trends und Perspektiven sind für einen Übertragungsnetzbetreiber und seine Netzplanung wichtig. Denn zusätzliche große Verbraucher, also Lastsenken, haben erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Sie erhöhen zwar den lokalen Verbrauch – können aber auch flexibel im Rahmen eines intelligent gesteuerten Demand Side Managements genutzt werden und somit eine wichtige Rolle bei der Entschärfung von Netzengpässen, der effizienten Nutzung von Erzeugungsspitzen sowie der Zwischenspeicherung von Strom spielen.
Eines ist bei alldem vollkommen klar: 50Hertz wird auch in Zukunft keine Kraftwerke betreiben und keinen Strom erzeugen. Daher ist die Frage berechtigt: Wo soll all der grüne Strom herkommen, der für das ambitionierte 100-Prozent-Ziel erforderlich ist?
Einige Antworten darauf, die im Dialog zwischen Politik und Wirtschaft gefunden werden müssen, finden sich sowohl auf See als auch an Land. So könnten in der Ostsee weitere Flächen nördlich des Darß und nordöstlich von Rügen mit einer Gesamtleistung von rund 1,5 Gigawatt (GW) für Offshore-Wind schneller als bisher geplant erschlossen und genutzt werden.
Auch bei Onshore-Wind ist noch vieles landschaftsschonend machbar. Beispiel Mecklenburg-Vorpommern: das mit 70 Einwohnern pro Quadratkilometern am dünnsten besiedelte Bundesland, ist ein schlafender Riese. Große Windparks in einzelnen Regionen dieses Bundeslandes täuschen darüber hinweg, dass sich im Schnitt auf zwölf Quadratkilometern Fläche nur ein einziges Windrad dreht. Eine weitere Chance liegt im Re-Powering. Dadurch kann in der Post-EEG-Ära die Windausbeute vervielfacht werden, ohne neue Eignungsflächen erschließen zu müssen.
Photovoltaik kann die Windlücke teilweise schließen
Einen Teil des derzeit lahmenden Windkraftausbaus könnte die Photovoltaik kompensieren. Im Osten Deutschlands gingen 2019 neue Anlagen mit einer Gesamtleistung von 1,3 GW Maximalleistung ans Netz – das sind 35 Prozent der gesamten neuen PV-Leistung in Deutschland! Aktuell befinden sich zahlreiche Projekte für große Freiflächenanlagen in der Pipeline. Das spiegelt sich auch in den aktuellen Szenario-Diskussionen zum Netzentwicklungsplan 2035 nieder, in denen es um eine Verdreifachung der heute installierten PV-Leistung auf 33 bis 36 GW geht.
50Hertz wird sich im Rahmen der neuen
100-Prozent-Strategie im Dialog mit Politik und Wirtschaft für beides stark
machen: Für den Ausbau der Erneuerbaren
und die sichere Dekarbonisierung der
Industrie. Wir werden unser Know-how
einbringen aus der Steuerung komplexer Systeme, aus der Netzplanung, aus der Bürger-
und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturprojekten und bieten auch bei
Fragen zur digitalen Sicherheitsarchitektur komplexer Systeme unsere
Zusammenarbeit an.