Wie tiefgreifend die Reform des europäischen Emissionshandel (ETS) ist, lässt sich in einer Zahl ausdrücken: 2039. Wenn man direkt danach sucht, wird man sie im Text der neuen Richtlinie nicht finden. Sie ergibt sich jedoch, wenn man hochrechnet, wann die Menge der jährlich ausgegebenen Zertifikate null betragen wird, nämlich im Jahr 2039.
In 16 Jahren können Energiewirtschaft und energieintensive Industrien also keine neuen Zertifikate mehr kaufen und nur noch untereinander handeln, was an Restmengen im Markt verblieben ist. Das „ETS-Endspiel“ ist damit eingeläutet, wie Kollegen und ich dies in einer neuen Studie im Rahmen des Kopernikus-Projekts Ariadne beschreiben.
Natürlich wird es bis zum Jahr 2039 noch weitere Reformen geben. Klar ist jetzt schon, dass noch eine umfassende Reform für die nächste Handelsperiode ab 2031 ansteht, die das noch offene Zwischenziel für 2040 berücksichtigen muss. Zudem sind schon jetzt verschiedene „Review Clauses“ festgeschrieben: die Prüfung der Einbeziehung von CCS/CCU und der Funktion der Marktstabilitätsreserve (MSR) im Jahr 2026, sowie die Integration (Linking) des neuen ETS2 im Jahr 2031. An der grundsätzlichen Dringlichkeit des Zeitplans ändert dies jedoch nichts. Diese leitet sich schlicht aus dem EU-Ziel der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 ab.
Eine Glaubwürdigkeitskrise droht
Der nunmehr klare Pfad des Cap „schnurstracks“ hin zu null wirft neue regulatorische Fragen auf. Kann ein Markt mit immer weniger Zertifikaten überhaupt noch funktionieren? Wer wird dann handeln, nach welchem Kalkül, und wird sich überhaupt ein effizientes Marktgleichgewicht finden? Ist gegebenenfalls doch eine CO2-Steuer notwendig?
Weiterhin könnte die Einbeziehung negativer Emissionen und etwaiges internationales Linking den Markt grundlegend verändern. Je nach Entwicklung könnte es dazu kommen, dass das Angebot an Zertifikaten sogar wieder zunimmt. Beschaffenheit und Timing des Endspiels sind also nicht so eindeutig wie anfangs vermutet – was hohe regulatorische Unsicherheit für Firmen bedeutet. Weil lediglich 16 Jahre verbleiben, werden Firmen dies schon jetzt in ihrer Preisbildung berücksichtigen.
Um eine sukzessive Verzerrung der Preise zu verhindern, muss die Beantwortung dieser Fragen (wissenschaftlich) und eine entsprechende Anpassung des Systems (regulatorisch) möglichst bald angegangen werden. In der Tat tut das die EU-Kommission bereits im Rahmen eines neuen Projekts, das im Februar begonnen hat.
Noch bedeutender allerdings sind die politischen Implikationen – allem voran die Notwendigkeit, eine Glaubwürdigkeitskrise zu vermeiden. Dass die politische Glaubwürdigkeit der Klimaziele akut in Gefahr ist, ergibt sich durch Rückwärtsinduktion des „ETS-Endspiels“. Konkret: Die Modellergebnisse unseres Endspiel-Papier legen nahe, wie sehr die nun verabschiedete Reform die Transformation beschleunigen könnte.
Im Jahr 2030 liegt der ETS-Preis im Reformszenario bei knapp 130 Euro pro Tonne. Rein marktlich wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung bei diesem Preis schon im Jahr 2030 nahezu vollzogen, sogar EU-weit. Außerdem wären – im Gegensatz zum alten Cap – schon substanzielle Emissionsreduktionen in der Industrie vor 2030 nötig. Dazu kommt ein absehbar hohes Verwahren (Banking) von Zertifikaten durch Firmen, um sich gegenüber dem niedrigen Angebot an Zertifikaten im nächsten Jahrzehnt abzusichern. Doch je höher die Menge der verwahrten Zertifikate, desto stärker die Löschung von Zertifikaten durch die MSR, die die Beschleunigung damit nur noch verstärkt.
Aufweichung des Cap bei zu hohen ETS-Preisen verhindern
Im Gegenzug heißt dies: Ist die Politik nicht in der Lage, die existierenden Barrieren für ein solch hohes Transformationstempo in der Energiewirtschaft und Industrie aus dem Weg zu räumen, so werden die ETS-Preise immer weiter ansteigen. Irgendwann könnte dabei der Punkt erreicht sein, an dem dies politisch nicht mehr durchhaltbar wäre und der Cap aufgeweicht werden würde. Das wiederum wäre ein erheblicher Einschnitt in die Glaubwürdigkeit der Klimaziele.
Dies zu verhindern bedeutet, dass die Politik jetzt handeln muss. Oder anders gesagt: die von ihr selbst mitbeschlossene ETS-Reform sitzt der (jetzigen und zukünftigen) Bundesregierung im Nacken und macht es dringend erforderlich, Schritt zu halten. Das reformierte ETS ist damit faktisch nicht nur Leitinstrument, sondern auch Taktgeber der Transformation.
Die Bundesregierung nimmt diese zwar umfassend in Angriff, aber die regulatorische Qualität vieler Maßnahmen birgt die Gefahr, dass das Glaubwürdigkeitsproblem lediglich in die Zukunft verschoben wird. Einen umfassenden Überblick darüber, was gerade alles passiert, gibt der jüngst erschienene Werkstattbericht „Wohlstand klimaneutral erneuern“ des BMWK. Eine besonders prominente Rolle darin spielen Förderungen verschiedenster Art.
Es ist ohne Zweifel notwendig, gerade neue und riskante Technologien zu fördern. Doch das Problem ist der politische Verhandlungs- und Vergabeprozess. Die Industrie weiß mit Blick auf das Endspiel natürlich nur zu gut, dass die Politik unter Druck steht und kann sich ihren Beitrag zum Klimaschutz großzügig bezahlen beziehungsweise nahezu rundum absichern lassen.
Paradebeispiel dafür sind die Klimaschutzverträge. Tatsächlich hat der „race for subsidies“ also schon begonnen. Das mag eine Zeitlang gut gehen, aber die Kosten einer „vollversicherten“ Transformation werfen erhebliche Zweifel auf, ob dies finanziell nachhaltig und für zukünftige Regierungen fiskalisch durchzuhalten ist. Das Glaubwürdigkeitsproblem wäre damit also nur in die Zukunft verschoben.
Hemmnisse reduzieren
Anders könnte es aussehen, wenn man politisch nicht gegen die hohen ETS-Preise arbeitet, sondern sie sich zunutze macht. Einerseits um Firmen mehr Flexibilität bei ihren Entscheidungen einzuräumen: Der Ausstieg aus CO2-intensiven Technologien ist letztendlich eine Notwendigkeit, und Ausstiegsfahrpläne und Technologiestandards können helfen. Aber sie sollten nur eine „nach hinten“ absichernde Rolle spielen, und der Kernanreiz sollte aus dem ETS-Preis kommen. Dadurch könnte man sich kleinteilige Regulierung ersparen und das politische Kapital stattdessen in den Abbau von Bürokratie, überbordenden Regeln und nicht-finanziellen Investitionshemmnissen stecken.
Andererseits kann der ETS-Preis die Verhandlungsposition der Politik entscheidend verbessern, wenn Instrumente das Preisrisiko nicht oder nur in geringem Umfang sozialisieren. Paradebeispiel ist der Steinkohlausstieg, den man vor allem aufgrund gestiegener ETS-Preise praktisch zum Nulltarif bekommen hat. Konzentriert sich die Politik darauf, das ETS in dieser Weise ins Zentrum ihrer regulatorischen Planung zu stellen, kann die Transformation tatsächlich glaubwürdig gelingen: eine nahezu vollständige Reduzierung der Emissionen in nur 16 Jahren durch entfesselte Marktkräfte und Innovationen in Turbogeschwindigkeit.
Michael Pahle leitet die Arbeitsgruppe „Klima- und
Energiepolitik“ am PIK und das Arbeitspaket „Europa“ im Kopernikus-Projekt
„Ariadne“. Außerdem berät er die Bundesregierung zur EU-ETS-Reform und die
europäische Kommission zu Fragen der Ausgestaltung des EU-ETS nach 2030.