Mitte März haben endlich die Verhandlungen zum neuen EU-Gesetz zur Rettung der Natur begonnen. Das „Nature Restoration Law“ muss zu einem historischen Naturschutzprogramm werden, mit dem die untrennbaren Zwillingskrisen der Erderhitzung und des Artensterbens gleichermaßen angegangen werden. Wir Menschen sind auf eine intakte Natur angewiesen. Gesunde Ökosysteme sichern unser Essen und Trinken, unsere Luft zum Atmen und ein erträgliches Klima. Mit dem Gesetz zur Rettung der Natur können wir schützen, was uns schützt.
Rund ein Viertel der bekannten Tier- und Pflanzenarten sind bedroht, davon die Hälfte stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Der Weltbiodiversitätsrat schätzt, dass insgesamt acht Millionen Arten auf unserem Planeten leben, von denen eine Million in naher Zukunft verschwinden könnte. Arten sterben aus, weil ihre Lebensräume durch Erderhitzung, veränderte Landnutzung und Schadstoffe zerstört werden. In Europa sind laut EU-Umweltagentur 81 Prozent der geschützten Lebensräume und 63 Prozent der Populationen geschützter Tiere und Pflanzen in einem schlechten Zustand.
Wir brauchen Renaturierungsmaßnahmen auf mindestens 30 Prozent der Landflächen und Seegebiete in der EU bis 2030. Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Zielmarke von 20 Prozent wird das Artensterben nicht aufhalten.
Auf der 15. Weltbiodiversitätskonferenz (COP15) im Dezember 2022 verpflichtete sich die Weltgemeinschaft in einem historischen Abkommen, mindestens 30 Prozent der Land- und Seeflächen bis zum Jahr 2030 unter Schutz zu stellen und mindestens 30 Prozent der zerstörten Lebensräume zu renaturieren. Das erste EU-Naturschutzgesetz seit rund 20 Jahren soll auch die Beschlüsse der COP15 in ein für alle EU-Mitgliedstaaten bindendes Gesetz gießen.
Europa ist der Kontinent mit dem geringsten Anteil wilder Natur. Nur wenn wir vor der eigenen Tür kehren und die auf internationaler Bühne gemachten Versprechen einlösen, können wir ein glaubwürdiger Akteur sein. Andernfalls wird es schwierig, andere Länder zur Bewahrung ihrer Urwälder und Feuchtgebiete zu bewegen, wenn diese Ökosysteme bei uns großenteils zerstört wurden.
Naturschutz ohne Grenzen
Artenschutz darf nicht länger an Verwaltungs- oder Landesgrenzen enden. Europa braucht ein „TEN-N“, ein Transnationales Netz für die Natur, um bedrohten Pflanzen und Tieren langfristige Grundlagen für deren Erhalt zu schaffen. Was für Autos und LKWs („TEN-T“) sowie für Strom- und Gasleitungen („TEN-E“) selbstverständlich ist, muss auch beim Schutz unserer Lebensgrundlagen zur politischen Priorität in Europa werden. Im neuen Gesetz zur Rettung der Natur setze ich mich daher für eine verpflichtende Biotopvernetzung ein.
Flüsse und Bäche sind die Lebensadern Europas. Als natürliche Grenzen trennen und als Handelsstraßen und Erholungsräume verbinden sie die EU-Mitgliedstaaten und die Menschen, Tiere und Pflanzen, die an ihren Ufern und im Wasser leben. Unsere Gewässer müssen frei fließen und vor Giften geschützt sein. Laut Europäischer Umweltagentur gibt es in europäischen Gewässern circa eine Million Barrieren, wie beispielsweise Dämme und Staustufen, von denen mindestens zehn Prozent überflüssig sind, weil sich längst kein Mühlrad mehr dreht oder kein Holz mehr geflößt wird. Ich setze mich deshalb für das Entfernen von Flussbarrieren auf 15 Prozent der Länge aller Fließgewässer in jedem einzelnen Mitgliedstaat ein.
Moore sind Klimaschützer
Alle Lebensräume zu Land und im Wasser müssen in den Blick genommen werden, doch Mooren kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Laut Weltklimarat IPCC müssen 30 bis 50 Prozent der kohlenstoffreichen Ökosysteme renaturiert werden, um die Erderhitzung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen.
Die Wiedervernässung von Mooren ist sowohl für den Artenschutz als auch für den Kampf gegen die Klimakrise unerlässlich. Moore machen zwar nur drei Prozent der weltweiten Landfläche aus, binden jedoch ein Drittel des terrestrischen Kohlenstoffs. Das ist doppelt so viel wie alle Wälder unserer Erde zusammen.
Die Entwässerung von Mooren für die Land- und Forstwirtschaft sowie zur Bebauung ist weltweit für vier Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich und somit bedeutender als der globale Flugverkehr. Als Kohlenstoffspeicher und Wasserpuffer sind lebendige Moore unsere Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen. Ich fordere deshalb, dass alle ehemaligen Moorgebiete, mit Ausnahme von Wohngebieten, bis zum Jahr 2050 zu mindestens 90 Prozent wiedervernässt werden. Zur Erreichung des deutschen Klimaziels bis 2045 bedeutet das die Wiederherstellung von 1,8 Millionen Hektar Moorflächen. Aktuell sind in Deutschland über 90 Prozent der Moore trockengelegt.
Naturschutz ist Menschenschutz
Durchschnittlich verliert Europa jeden Tag etwa 40.000 Vögel. Heute leben in der Europäischen Union 600 Millionen Brutpaare weniger als noch vor 40 Jahren. Bei Insekten ist die Lage noch dramatischer. Gleichzeitig wird bestehendes Naturschutzrecht regelmäßig und systematisch verletzt. Immer wieder verurteilt der Europäische Gerichtshof EU-Mitgliedstaaten. Auch die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie 2020 wurden verfehlt. Laut Europäischer Umweltagentur sind nicht nur Verbesserungen ausgeblieben, sondern lebendige Naturräume sind weiter zurückgegangen und immer mehr Arten landen auf den Roten Listen.
Die Europäische Kommission muss endlich bereits geltendes europäisches Naturschutzrecht durchsetzen. Es ist wenig glaubwürdig, auf der Weltbiodiversitätskonferenz den Erhalt des Sumatra-Tigers anzumahnen, wenn die Tötung von geschützten Arten wie Wolf oder Luchs in Europa nicht adäquat verfolgt wird.
Seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine durch Russland wittern einige die Chance, unliebsame Schutzmaßnahmen für unsere Lebensgrundlagen loszuwerden. Der Naturschutz soll ausgesetzt werden, um einer vermeintlichen Hungersnot entgegenzuwirken, statt wirksame Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung einzufordern oder den massiven Flächenverbrauch für Fleischproduktion und Energiepflanzen anzugehen. Auf 70 Prozent der Agrarflächen wachsen Tierfutter und Biosprit. Diese Ernteerträge wandern nicht etwa auf die Teller von Bürgerinnen und Bürgern, sondern in Verbrennungsmotoren und Tiertröge, hauptsächlich in der Massentierhaltung.
Der Erhalt und die Wiederherstellung gesunder Ökosysteme sind keine Bremse für die Lebensmittelsicherheit, sondern ihre zwingende Voraussetzung. Pestizide, überdüngte Böden, das Insektensterben und belastete Gewässer sind tickende Zeitbomben. Schätzungen zufolge sind bereits 20 bis 25 Prozent der Böden weltweit degradiert, das heißt, in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Das Artensterben bedroht schon heute unsere Ernährungssicherheit. Nur nachhaltige und vielfältige Ökosysteme sichern unsere Lebensgrundlagen und steigern nachweislich die Ernten.
Gesunde Ökosysteme sind Lebensmittellieferanten, Wasserversorger und Klimaschützer zugleich. Natürliche Flussläufe schützen uns gegen Überschwemmungen, Moore und Waldböden speichern Kohlenstoff. Das Gesetz zur Rettung der Natur muss zum wirksamen Werkzeug im Kampf gegen Klima- und Biodiversitätskrise werden. Nur verbindliche, einklagbare Ziele und Maßnahmen können das Artensterben und den Verlust wertvoller Lebensräume aufhalten.