Erneuerbare Energien, Flexibilität, variable Strompreise, Netzentgelte und Gebotszonen sind im Energiesektor in aller Munde. Seit mehreren Jahren gibt es Rufe nach einer Reform des Strommarktes, um die Spielregeln des Marktes auf 100 Prozent Erneuerbare Energien umzustellen. Die Ampel hatte sich bereits im Koalitionsvertrag darauf verständigt, relevante Themen zu bündeln und eine Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ (PKNS) einzusetzen, welche Vorschläge für Grundsatzentscheidungen entwickelt. Geplanter Startschuss war 2022.
Schauen wir nun aber nach vorn: Mit einem Jahr Verspätung hat die Plattform heute ihren Auftakt. Ziel ist laut Koalitionsvertrag unter anderem, eine „rasche und umfassende Reform der Finanzierungsarchitektur des Energiesystems. Der Weg muss darin bestehen, Anreize für die sektorübergreifende Nutzung von Erneuerbaren Energien, dezentrale Erzeugungsmodelle sowie die Vermeidung von Treibhausgasemissionen konsequent zu stärken“. Doch dazu gab es nun einen Dämpfer. Nun wurde bekannt, dass die Plattform auf 2,5 Jahre – bis Mitte 2025 – angesetzt ist. Somit ist heute bereits klar, dass die wegweisenden Entscheidungen über eine umfassende Strommarktreform sich um mehrere Jahre verzögern werden.
Wir setzen also nicht mehr konsequent auf Tempo. Vorgesehen ist nun ein zweistufiges Verfahren: In Stufe eins werden dabei die ehemals wohlklingenden Versprechungen des Koalitionsvertrages von einer Kraftwerksstrategie überfahren, die verdächtig nach „alter Energiewelt“ mit fossilen Gas-Kraftwerken riecht. Erst Stufe zwei zündet den Booster für Erneuerbare und setzt Ergebnisse, die innerhalb der Plattform entwickelt wurden, um. Aber erst ab 2030!
Die PKNS dauert zu lange und greift zu spät
Es gibt Realitäten und Herausforderungen, denen sich die Ampel umgehend und ohne viel Plattform-Diskurs stellen muss: Das Klima und damit unsere Lebensgrundlagen kollabieren unbeirrt weiter, fossile Kraftwerke blasen beharrlich schädliches CO2 in die Luft und nutzen die Atmosphäre als Endlager, hinzu kommen ständige Abregelungen von Erneuerbaren- Kraftwerken in allen Ecken der Republik. All dies sind völlig logische Auswirkungen in einem Energiesystem, dass aus einem fossilen Zeitalter stammt.
Ich bin jemand, die eigentlich immer auf den Dialog mit allen Akteur:innen setzt, hier aber fehlt mir sowohl die Notwendigkeit als auch die Geduld: Wir können nicht weitere 2,5 Jahre reden und nichts tun. Wir müssen kurzfristig wirklich alle Hebel umlegen, um die gesetzlich festgelegten Ausbauziele von 215 Gigawatt (GW) Photovoltaik, 115 GW Wind an Land und 30 GW Wind auf See bis zum Jahr 2030 zu planen, zu genehmigen und zu bauen. Das Strommarktdesign als Grundlage für das Marktgeschehen ist dabei vielleicht der größte Hebel, den wir haben und muss unverzüglich auf die neue Energiewelt mit 100 Prozent Erneuerbaren ausgerichtet werden.
Grundsätzlich ist es immer richtig, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Ein Markteingriff in der notwendigen Größenordnung gleicht einer Operation am offenen Herzen und kann zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen führen: Diese Operation muss akribisch geplant und präzise durchgeführt werden sowie lebenserhaltende Maßnahmen sicherstellen. Ein zweistufiges Vorgehen bietet die Möglichkeit, die akuten Probleme schnell in Angriff zu nehmen und gleichzeitig kritische Langfrist-Vorschläge klug abzuwägen. Eine kurzfristig in fossilen Strukturen verhaftete Kraftwerksstrategie, kombiniert mit der Verschiebung der dringend benötigten Strommarktreform in die Ungewissheit einer kommenden Legislaturperiode, ist jedoch genaue Gegenteil dessen, was jetzt gebraucht wird.
Es braucht ein Sofortprogramm für den Marktübergang
Die Plattform muss daher sofort loslegen und No-Regret-Maßnahmen identifizieren, die noch dieses Jahr umgesetzt werden können. No-Regret-Maßnahmen sind Maßnahmen, die sich mit oder ohne die Folgen des Klimawandels aus ökonomischer, ökologischer und sozialer Perspektive lohnen und die man, wortwörtlich, nicht bereut. Eine solche Maßnahme wäre zum Beispiel eine zeitliche Staffelung der Netzentgelte. Wie es gehen kann, zeigen uns die dänischen Nachbarn mit dreierlei Tarifen an einem Tag. Die Bundesnetzagentur sollte dies rasch umsetzen können.
Und wir müssen all das wegnehmen, was der Flexibilität im Wege steht, das heißt, langlebige Investitionen so flexibel machen, dass wir die Flexibilität auch in späteren Jahren nutzen können. Wir müssen die vorhandenen Regelungen entschlacken und Gesetze vereinfachen.
Wird ein Sofortprogramm an dieser Stelle verschlafen, wird die EU, die aktuell mit einer eigenen Strommarktdebatte voranprescht, nationale Bestrebungen überholen und Fakten schaffen. Deshalb müssen wir eigene Akzente setzen, sonst droht 2030 zur Stolperfalle zu werden: Der Kohleausstieg, zumindest in Westdeutschland, das Ende der EEG-Förderung für Erneuerbare, das Ende des alten Strommarktdesigns und ein plötzlicher Wechsel auf neue unbekannte Marktregeln, mit denen Marktakteur:innen keine Erfahrungen haben werden, könnten zu einer Massenkarambolage in der neuen Energiewelt führen.
Um dem vorzubeugen, braucht es einen klaren und reibungslosen Übergang in ein neues Marktmodell, das unmittelbar Planungssicherheit und Vertrauen schafft. Die Deutsche Umwelthilfe ist als Teilnehmerin zur PKNS eingeladen. Sie wird sich dafür stark machen, ein Sofortprogramm Strommarktdesign noch im Jahr 2023 zu verabschieden, damit der Ausbau Erneuerbarer Energien energisch vorangetrieben wird, damit das Marktsystem Effizienzen im Strommarkt hebt, damit die Kosten für die Integration der Erneuerbaren Energien fair verteilt werden und ein klug geplanter Übergang in die neue und dem Klimaschutz dienende Marktlogik der erneuerbaren Energiewelt gelingt – ohne Reue!
Nadine Bethge ist Stellvertretende Leiterin Energie und Klimaschutz bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH).