Der Inflation Reduction Act (IRA) wird erst langsam in seiner ganzen Dimension verstanden. Die Europäer haben einerseits Grund zur Genugtuung, denn mit ihm wenden sich die USA erstmals kraftvoll dem Klimaschutz zu: endlich! Auf der anderen Seite aber fordern die USA damit die klimapolitische und -technologische Führungsrolle Europas heraus. Durch das Gesetz könnten die Vereinigten Staaten schon bald ein Wirtschafts- und gleichzeitig ein Klimawunder erzeugen. Deshalb ist ein genauerer Blick auf den IRA angebracht: Was können wir lernen?
Zunächst: In Europa haben wir den Kampf für den Klimaschutz zur ersten Priorität ernannt und hoffen damit, auch Wirtschaft und Industrie neue Chancen zu eröffnen. In den USA läuft es mit dem IRA genau umgekehrt: Es geht der Biden-Administration um die Stärkung der amerikanischen Mittelklasse, die Reindustrialisierung des „Rost-Gürtels“ und die Dominanz der USA in der „great power rivalry“. Dafür wird nun der Klimaschutz als Mittel zum Zweck eingesetzt. Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, sieht es so: Es gehe um den „Schutz unserer grundlegenden Technologien mit einem kleinen Garten und einem hohen Zaun.“ Das ist die diplomatische Version von Donald Trumps „America First“ – und sie ist im IRA klug umgesetzt!
Die Reindustrialisierung der USA
Das entscheidende Instrument des IRA sind Steuergutschriften von etwa 270 Milliarden US-Dollar. „Clean Vehicle Credits“ oder „Energy Innovation Credits“ wirken als Magneten für Investitionen aus aller Welt und entfesseln mit marktwirtschaftlichen Anreizen technologische Innovationen – ganz ohne Verbote und bürokratisches Mikromanagement.
Steuerliche Erleichterungen wurden vor 2023 jedes Jahr zwischen Regierung und Parlament neu verhandelt. Mit dem IRA gibt es nun „tax credits“ für die Dauer von mindestens zehn Jahren und damit Verlässlichkeit für Investoren und Produzenten. Mit „Investment Tax Credits“ (ITCs) werden zum Beispiel Energiespeichertechnologien, Mikrogrid-Controller, Brennstoffzellen, Geothermie und Mikroturbinen gefördert. Gutschriften für Kapitalkosten sind besonders attraktiv für Start-ups im Klimabereich und Venture-Capital-Firmen. „Production Tax Credits“ (PTCs) gibt es vor allem für Solar- und Windenergieprojekte. Sie stehen im Zentrum des IRA.
Aber es gibt sie eben auch für Wasserstoff und synthetische Treibstoffe (E-Fuels), für Bio-Kraftstoffe und Biomasse, Deponiegas. Wasserkraft, Meeresenergie und hydrokinetische Energie für Elektroautos. Hier wird nicht – wie in Europa und Deutschland – vorgegeben, welche Technik sich im Automobilbereich oder dem Wärmesektor durchsetzt. Vielmehr werden alle ökonomischen und technologischen Kräfte mit Anreizen in Richtung Klimaneutralität gelenkt. Und der IRA verpflichtet alle Nutznießer einen großen Teil der Wertschöpfung in den USA vorzunehmen.
Förderung auch für blauen Wasserstoff und Nukleartechnik
Zudem ist es möglich, die Produktion von „blauem Wasserstoff“, der aus Erdgas gewonnen wird, dann zu fördern, wenn das dabei entstehende Kohlendioxid mithilfe von Carbon Capture Storage (CCS) in unterirdische Speicherstätten verpresst oder genutzt (CCU) wird. Der in Deutschland so quälend geführte „Farbenstreit“ beim Wasserstoff findet in den USA – wie übrigens in den meisten anderen Ländern – nicht statt: Entscheidend ist allein die Klimaneutralität. Der „grüne“, aus erneuerbaren Energien, gewonnene Wasserstoff profitiert von den „tax credits“ allerdings am stärksten.
Der IRA sieht darüber hinaus weitere Milliarden für die Forschungsförderung vor, etwa für eine neue Generation von Nukleartechnik, die in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern von vornherein ausgeschlossen wird. Allein für das Programm „High Assay Low-Enriched Uranium“ (HALEU) stehen 700 Millionen Dollar zur Verfügung. Für die Kernfusion im „Oak Ridge National Laboratory“ sind 497 Millionen durch den IRA im Haushalt verankert.
Die Transformationspfade werden anerkannt
Die Amerikaner gehen die Klimapolitik pragmatisch an: sie fördern Brückentechnologien und ernten im Kampf für die Dekarbonisierung auch die „low hanging fruits“, indem sie in schrittweisen Erneuerungen nicht die „Verlängerung fossiler Geschäftsmodelle“ vermuten, sondern die Transformationspfade der Wirtschaft anerkennen und belohnen.
Der Erfolg des IRA zeigt sich bereits. Unter anderem aus Europa und Lateinamerika werden Investoren angezogen, die konkrete Projekte anschieben. Es ist unverkennbar: die amerikanische Klimapolitik, angetrieben durch den IRA, führt zu einer Reindustrialisierung des Landes.
In Europa dagegen stehen die Zeichen auf Deindustrialisierung. Gewiss, diese Entwicklung ist nicht nur auf den IRA zurückzuführen, sondern auch auf andere Faktoren, etwa die hohen Energiekosten infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Die europäische Politik hat die Gefahr erkannt und versucht mit gewaltigen Direktsubventionen gegenzusteuern, zum Beispiel mit der direkten Förderung von „grünem Stahl“ oder dem 1,1 Milliarden EU-Zuschuss, mit dem das schwedische Batterieunternehmen Northvolt in Europa gehalten werden konnte. Solche Projekte mögen im Einzelfall sinnvoll sein. Im Ganzen aber sind sie Ausdruck eines eher reaktiven Abwehrkampfes gegen die Kräfte der Marktwirtschaft. So werden wir einzelne Unternehmen halten können, am Ende aber den Wettbewerb um Zukunftsinvestitionen verlieren.
Mehr Pragmatismus und mehr Markt wagen
Noch können wir uns gegen den drohenden Abstieg aufbäumen. Wir verfügen über eine einmalige Forschungslandschaft, über glänzende Ingenieure und Techniker und kreative Unternehmer. Einige Gedanken zu einer Neuausrichtung der europäischen Industriepolitik:
- Sie ist von guten Intentionen geprägt, sie muss aber pragmatischer werden, wenn wir in Deutschland und Europa Anschluss halten wollen. Sie darf nicht abstrakten theoretischen Modellen („all electric“) anhängen, sondern sollte die Erfahrungen aus der wirtschaftlichen Praxis stärker einbeziehen und auf den fachkundigen Rat von Unternehmen und Gewerkschaften vertrauen.
- Die europäische Klimapolitik muss das marktwirtschaftliche Instrument des Handels mit Emissionszertifikaten ins Zentrum der Klimapolitik rücken und dessen Steuerungswirkung mehr vertrauen als staatlichem Mikromanagement.
- Die Politik muss innovationsoffener sein. So wie niemand den ungeheuren technischen Fortschritt von Internet, iPhone oder KI voraussagen konnte (auch nicht den der erneuerbaren Energien), so darf sich kein Politiker anmaßen, heute über die beste technologische Lösung in zehn oder zwanzig Jahren zu befinden. Vielleicht brauchen wir zum Beispiel noch den Verbrennungsmotor: nicht für fossiles Benzin, aber für synthetische E-Fuels, die – als Ergänzung zur Elektromobilität – die weltweite Flotte von derzeit 1,4 Milliarden Pkw dekarbonisieren könnten.
- Hätten wir Mitte des letzten Jahrzehnts das Freihandelsabkommen mit den USA unterzeichnet, dann würden die IRA-Bestimmungen auch für uns gelten. So ist es wichtig, dass die EU-Kommission ihre Bemühungen fortsetzt, um mit den Amerikanern wenigstens bei den Anwendungs-Richtlinien des IRA einige günstige Regelungen auszuhandeln.
- Der Anstieg der Weltbevölkerung und der Wunsch der Menschen nach Wohlstand und Wachstum wiegen die Reduktion von Treibhausgasen in Europa wieder auf. Die Einsparung einer Tonne CO2 kostet in China nur ein Zehntel von dem, was wir dafür ausgeben. Ist es deshalb nicht erwägenswert, die Treibhausgas-Reduktion, die wir auf unserer Erde so dringend brauchen, vor allem dort zu erzielen, wo man mit einem eingesetzten Euro den größten Effekt erzielt? Das heißt keineswegs, uns aus der Verantwortung zu stehlen oder nicht mit gutem Beispiel voranzugehen. Es geht darum, den Ländern des Globalen Südens stärker zu helfen, ihr Wachstum nachhaltig zu gestalten. CCS und CCU könnten dabei in eine Schlüsselrolle kommen.
Deutschland hat bereits so viel erreicht. Entscheidend ist die Entkopplung des fossilen Energieverbrauchs von der Steigerung des Bruttosozialproduktes. Teil davon ist ein unvergleichlicher Aufbau der Wind- und Solarenergie, sodass heute 50 Prozent der deutschen Stromerzeugung von Erneuerbaren geleistet werden. Das „grüne Paradigma“ hat sich überall in Europa durchgesetzt – es gibt einen tief verankerten Grundkonsens, dass die Erderwärmung eine enorme Gefahr für unsere Zivilisation darstellt. Dieser Konsens aber muss gepflegt werden: wer glaubt, seine Überzeugung von richtiger Klimapolitik gegen die Wirtschaft oder (wie beim Heizungsgesetz) gegen die Bürger durchsetzen zu müssen, wird scheitern. Eine erfolgreiche Klimapolitik braucht breite ökonomische und soziale Akzeptanz, einen diffamierungsfreien Dialog über die besten technologischen Möglichkeiten und Instrumente. Wir brauchen nicht weniger, sondern bessere Klimapolitik.
Dr. Friedbert Pflüger ist Geschäftsführer des Clean Energy Forums (CEF), eines neuen Thinktanks in Berlin. Zudem ist er Aufsichtsratsvorsitzender des Gasverbandes Zukunft Gas und Gründungspartner der Beratungsfirma „Strategic Minds Company“ (SMC).