Im Oktober 2016 schlug die EU-Kommission vor, den Redispatch europaweit wettbewerblich zu organisieren. Der Redispatch wird von den Übertragungsnetzbetreibern verwendet, um Überlastungen des Stromnetzes zu vermeiden. Dabei wird ein Kraftwerk (zum Beispiel in Norddeutschland) angewiesen, die Einspeiseleistung zu reduzieren, während ein anderes Kraftwerk (etwa im Süden) hochgefahren wird. In Deutschland sind Erzeugungsanlagen verpflichtet, am Redispatch teilzunehmen. Sie erhalten dafür eine Erstattung von Kosten und entgangenem Gewinn – diese Zahlungen wälzen die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) über Netzentgelte an ihre Kunden.
Der Vorschlag der Kommission einer marktbasierten Beschaffung klingt erstmal charmant: So entstünden Anreize für Industrieverbraucher, sich am Redispatch zu beteiligen. Langfristig könnten auch intelligent ladende Elektroautos und Solarbatterien für eine Netzentlastung und eine Nutzung statt Abregelung von erneuerbarem Strom sorgen. Soweit die Vision.
Leider ist die Realität problematischer. Bei marktbasiertem Redispatch entstünde parallel zum zonalen Strommarkt ein weiterer, lokaler Markt für Flexibilität. Hier würden Verbraucher, Speicher und Erzeuger den ÜNB anbieten, ihre Leistung hoch- oder herunterzufahren und erhielten dafür einen Preis. Im Rahmen einer Studie für das BMWi haben wir in den vergangenen zwei Jahren ein solches Marktdesign untersucht. Dabei haben wir zwei zentrale Probleme identifiziert: Marktmacht und Rückkopplungen auf den Strommarkt.
Nur Kraftwerke in der Nähe des Engpasses kommen infrage
Selbst wenn deutschlandweit noch ausreichend Erzeugungsleistung zur Verfügung steht, bieten sich nur wenige einzelne Kraftwerke an, einen Engpass zu beseitigen. Einen signifikanten Einfluss auf einen Netzengpass hat nämlich nur, wer nahe dieses Engpasses ans Netz angeschlossen ist. Eine geringe Anzahl von Anbietern bedeutet Marktmacht, also die Fähigkeit den Preis zu beeinflussen. Spielen Unternehmen diese Marktmacht aus, erzielen sie zusätzliche Gewinne auf Kosten der Verbraucher.
Darüber hinaus bietet die Koexistenz eines zonalen Strommarkts mit einem lokalen Redispatch-Markt Marktteilnehmern Anreize für strategisches Verhalten. In Knappheitsregionen antizipieren Erzeuger, dass sich durch Vermarktung ihrer Erzeugung auf dem Redispatch-Markt (höhere) Profite erwirtschaften lassen. Sie bieten deshalb auf dem Strommarkt zu höheren Preisen an und preisen sich so aus dem zonalen Markt. Umgekehrt antizipieren Erzeuger in Überschussregionen Profite durch Herunterregeln auf dem Redispatch-Markt. Um dies zu ermöglichen, geben sie auf dem Strommarkt niedrige Gebote ab und drücken sich so in den Markt. Auf dem Redispatch-Markt kaufen sie die Energie zu einem Preis unterhalb des zonalen Preises zurück und erfüllen so ihre Lieferverpflichtung.
Man kann diese Strategien als eine Optimierung zwischen zwei Märkten beziehungsweise als Arbitragehandel verstehen; in der Wissenschaft wird sie als „Inc-Dec-Gaming“ bezeichnet. Die Einführung eines Redispatch-Markts führt also zu Rückkopplungen auf dem zonalen Strommarkt, da sich das rationale Gebotsverhalten auf dem Strommarkt ändert. Ein solches Verhalten ist zwar völlig anreizadäquat – Akteure verhalten sich entsprechend der gesetzten Preisanreize – es führt aber zu einer Verschärfung der Netzengpässe, denn das Angebot verringert sich in ohnehin knappen Regionen während es sich in Überschussregionen erhöht. In Netzsimulationen für das Jahr 2030 erhöht sich das notwendige Redispatch-Volumen hierdurch um circa 200 bis 600 Prozent. Außerdem führt diese Gebotsstrategie zu einer Erhöhung der Gewinne der strategisch bietenden Marktakteuren auf Kosten von Letztverbrauchern sowie zu falschen Investitionsanreizen.
Regulatorisch lässt sich das Problem kaum beheben
Dieses Verhalten regulatorisch einzudämmen, halten wir für schwierig. Es stellt keine Verletzung von Wettbewerbsrecht oder Bilanzkreispflichten dar, erfordert keine Marktmacht oder wettbewerbswidrige Absprachen. Auch eine Eindämmung durch spezifische Regulierung halten wir für wenig aussichtsreich. Aus dem Nebeneinander von zonalem und lokalem Markt ergibt sich eine Anreizstruktur, die problemverschärfendes anstatt systemdienliches Verhalten belohnt. Dieses fundamentale Problem lässt sich nicht einfach in den Griff bekommen. Jede effektive Form der regulatorischen Eindämmung erfordert ein hohes Maß an regulatorischem Wissen vor allem im Hinblick auf die individuelle Zahlungsbereitschaft von Verbrauchern für Strom.
Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen des marktbasierten Redispatch halten wir die Nachteile für deutlich gewichtiger. Wir raten deshalb, auf eine Einführung von marktbasiertem Redispatch auf Basis von Abruf-Zahlungen zu verzichten.
Der Fokus unserer Analysen liegt zwar auf dem Übertragungsnetz, jedoch treten die dargestellten Probleme prinzipiell genauso im Verteilnetz auf und sind damit auch für lokale Flexibilitätsmärkte relevant.
Ein möglicher Ausweg könnte die Integration von Lasten in das Engpassmangement durch kapazitätsbasierte Zahlungen sein. Die ohnehin anstehende Weiterentwicklung der Regelungen für steuerbare Verbrauchseinrichtungen nach Paragraf 14a Energiewirtschaftsgesetz wäre hier ein denkbarer Ansatzpunkt. Soll die im europäischen Vergleich große deutschlandweite Gebotszone auch dauerhaft beibehalten werden, halten wir zudem gerade in der aktuellen Phase der dynamischen Transformation des Stromversorgungssystems ein Mindestmaß an regionaler Investitionssteuerung insbesondere für Erzeugungsanlagen für notwendig, etwa im Rahmen der Netzentgeltsystematik oder der Förderung von erneuerbaren Energien.
Das Forschungsvorhaben: „Untersuchung zur Beschaffung von Redispatch“ im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Abschlussbericht auf Deutsch und Englisch.
Partner der Untersuchung: Neon Neue Energieökonomik, Consentec, Connect Energy Economics, Fraunhofer ISI, Navigant, Stiftung Umweltenergierecht