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Energie & Klima

Standpunkte Netzausbau braucht mehr Pragmatismus

Matthias Lingg, Head of Engineering beim Solarunternehmen Enviria
Matthias Lingg, Head of Engineering beim Solarunternehmen Enviria Foto: Enviria

Der schleppende Netzausbau in Deutschland bremst die Energiewende: Zahlreiche große PV-Dachanlagen warten auf Anschluss. Um die Ausbauziele der Bundesregierung zu erreichen, sei mehr Pragmatismus nötig, fordert Matthias Lingg, Head of Engineering beim Solarunternehmen Enviria. Er schlägt vier Maßnahmen vor, um den Prozess zu beschleunigen und Druck vom Netz zu nehmen.

von Matthias Lingg

veröffentlicht am 03.09.2024

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Deutschland hat ein Netzproblem, das ist kein Geheimnis. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Der Wandel von wenigen zentralen Kraftwerken hin zu dezentralen Erneuerbaren-Anlagen fordert die bestehende Netz-Infrastruktur heraus. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Verteilnetz. Hier finden rund 95 Prozent der erneuerbaren Stromerzeugung statt – der Großteil der Energiewende.

Die Bundesnetzagentur rechnet für den Ausbau der Stromverteilnetze in den nächsten zehn Jahren mit Investitionen von rund 110 Milliarden Euro, bis 2045 sollen weitere 90 Milliarden folgen. Insbesondere mit Blick auf die knappe Staatskasse und die diskutierte Haushaltsdisziplin eine Mammutaufgabe!

Mit den Folgen knapper Netzkapazitäten sind wir tagtäglich konfrontiert. Als deutsches Solarunternehmen bauen wir PV-Dachanlagen im drei- bis vierstelligen Kilowattbereich für Gewerbe und Industrie. Damit müssen wir in den meisten Fällen in die Mittelspannung einspeisen und sind von den wesentlichen Erleichterungen für den Netzanschluss ausgenommen, die im Solarpaket 1 beschlossen wurden. Denn diese betreffen vor allem kleine Anlagen unter 30 Kilowatt Leistung.

Während diese beim Ausbleiben einer Rückmeldung des Verteilnetzbetreibers nun einfach ans Netz anschließen dürfen, müssen wir weiter warten. Die Rückmeldefrist von acht Wochen für die Netzzusage wird oft um mehrere Monate überschritten. Auch der weitere Abstimmungsprozess wird durch die technische Komplexität und Auslastung der Netzbetreiber immer länger. Das Ergebnis: Die Anlagen stehen fertig auf dem Dach, können aber keinen Strom produzieren. Dabei wäre genau das notwendig, um die ambitionierten Ziele der Bundesregierung von 215 Gigawatt Solar bis 2030 zu erreichen. Nur mit den 14 Gigawatt zusätzlicher Leistung, die 2023 installiert wurden, werden wir das nicht schaffen.

Der Blick auf die Solar-Ausbaustatistik zeigt: Zwar haben wir die Ausbauziele für das Jahr 2024 schon im Mai erreicht, der Anteil großer Aufdachanlagen mit mehr als 30 Kilowatt bleibt aber mit rund 20 Prozent der angeschlossenen Leistung verhältnismäßig gering. Das liegt am komplizierten Netzanschlussverfahren leistungsstarker PV-Dachanlagen. Dabei braucht es für viele einflussreiche Änderungen keine Milliardeninvestitionen. Mit vier Maßnahmen könnten wir den Prozess deutlich beschleunigen und den Druck beim Netzausbau reduzieren.

Standardisierung der technischen Anforderungen

Fast alle der 865 Verteilnetzbetreiber (VNB) in Deutschland haben unterschiedliche Anforderungen an die Anbindung von Anlagen und die verbauten Komponenten. Das fällt vor allem bei Trafostationen ins Gewicht, die für die Spannungsumwandlung verantwortlich sind. Denn je höher der Anteil Erneuerbarer am Strommix, desto mehr Stationen werden benötigt. Schätzungen zufolge muss sich ihre Anzahl in den nächsten Jahren mehr als vervierfachen.

Das Problem: Für jedes Projekt muss eine individuelle Station angefertigt werden – Standardisierung Fehlanzeige. Lieferanten werden dieses Pensum nicht stemmen können und die Energiewende zwangsweise verschleppen. Leider ist unser Vorschlag, Anlagen nach den höchsten Anforderungen zu bauen, bislang ins Leere gelaufen. Mit für uns oft nicht nachvollziehbaren Gründen, wie zum Beispiel, dass die Anforderungen an Kabelfarben und Schnittstellen dann gegensätzlich sein könnten.

Für die benötigte Menge an Trafostationen bräuchte es eine "Deutschlandstation", welche von jedem Verteilnetzbetreiber zugelassen wird und entsprechend nur wenige Varianten hätte. Davon würden alle profitieren. Die bessere Planbarkeit würde eine langfristige Lagerhaltung und damit eine schnellere Umsetzung der Projekte ermöglichen. Durch die höheren Bestellvolumina könnten Skaleneffekte und somit niedrigere Anschaffungskosten realisiert werden.

Synergien von Wind und Solarenergie nutzen

In Deutschland wird Windkraft vorrangig in den Herbst- und Wintermonaten, Solarenergie hauptsächlich im Sommer produziert. Dadurch besteht ein deutliches Ungleichgewicht in der saisonalen Energieverteilung. Diese Gegensätzlichkeit sollte nicht als Hindernis, sondern als Gelegenheit verstanden werden.

Eine innovative Lösung wäre die kombinierte Nutzung von Wind- und Solaranlagen an denselben Netzverknüpfungspunkten. Dies würde nicht nur die Netzbelastungen ausgleichen, sondern auch die Effizienz der Energieversorgung erheblich steigern.

Einsatz von Speichern stärker belohnen

Eine weitere Möglichkeit, bestehende Netze effizienter zu nutzen, ist der gezielte Einsatz von Stromspeichern. Dadurch könnten Lasten verschoben und so eine Netzüberlastung in Zeiten hoher Stromproduktion durch Erneuerbare-Anlagen vermieden werden. Speicher können als Puffer für das Verteilnetz dienen.

Leider sind sie im gewerblichen Bereich oft noch nicht wirtschaftlich. Ihre Rentabilität hängt stark vom Stromverbrauch ab, den viele Unternehmen nicht für mehrere Jahre im Voraus abschätzen können. Deswegen sollte die Installation leistungsstarker Gewerbespeicher besser gefördert werden. Das hätte einen weiteren Vorteil: Die Speicher könnten in noch größerem Maße Regelenergie bereitstellen und dadurch die Netzstabilität sicherstellen.

Effizientere Prozesse bei Verteilnetzbetreibern fördern

Bei aller Kritik muss deutlich gesagt werden: Oft sind die langsamen Prozesse bei den Verteilnetzbetreibern in der hohen Auslastung der Mitarbeiter begründet. Allein die jährlich neu installierte Solarleistung ist in den letzten zehn Jahren um den Faktor sieben gestiegen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist es für viele VNBs schwierig, Schritt zu halten. Umso wichtiger ist es, Prozesse effizienter zu gestalten.

Neben offensichtlichen Faktoren, wie der schleppenden Digitalisierung, müssen wir immer wieder die gleichen Rückfragen stellen. Um das zu antizipieren und den Prozess dadurch nicht weiter zu verzögern, könnte etwa die Netzzusage um wesentliche Informationen ergänzt werden. Dazu könnten Antworten auf folgende Fragen gehören: „Welche Anlagenleistung kann am bestehenden Hausanschluss noch netzverträglich angeschlossen werden?“ „Ab welcher Anlagenleistung muss eine kundeneigene Trafostation installiert werden?“. Dann könnten wir die Anlagen bei Bedarf kleiner bauen und uns zusätzliche Abstimmungsrunden sparen.

Fazit: Mehr Pragmatismus beim Netzausbau

Der Netzausbau ist langwierig und teuer. Mit den Folgen knapper Netzkapazitäten sind wir bereits heute tagtäglich konfrontiert. Um den Ausbau erneuerbarer Energien zu beschleunigen, ist ein pragmatischer Ansatz sinnvoll. Eine Standardisierung technischer Teile beschleunigt die Umsetzung von Projekten und reduziert die Kosten. Bestehende Netze können durch eine effizientere Abstimmung von Solar- und Windenergie sowie den Einsatz von Batteriespeichern besser genutzt werden. Dafür bedarf es aber klarer politischer Vorgaben. Es gilt, die Prozesse bei Verteilnetzbetreibern zu optimieren, um die herausfordernde Personalsituation zu adressieren. So schaffen wir auch die Energiewende.

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