Zugegeben, die Herausforderungen sind groß: höhere Kosten für den Bau neuer Anlagen, unsichere Marktprognosen, teurer und nur begrenzt verfügbarer grüner Wasserstoff. Hinzu kommen die Verzögerung des Pipeline-Projektes aus Dänemark und die Absage aus Norwegen.
Doch demgegenüber stehen Subventionen für alle großen deutschen Primärstahlhersteller in Höhe von sieben Milliarden Euro sowie ein konkreter Plan für den Aufbau eines Wasserstoffkernnetzes samt einem cleveren Finanzierungsmodell. Außerdem ging mit den Klimaschutzverträgen in Höhe von über zehn Milliarden Euro ein Instrument an den Start, das über eine lange Laufzeit auch betriebliche Mehrkosten abdeckt. In der ersten Runde wurde bereits ein Schmiedewerk in Sachsen der Sekundärstahlhersteller-Gruppe Georgsmarienhütte für die Umstellung auf Wasserstoff gefördert. In der nächsten Ausschreibungsrunde können sich auch die Primärstahlhersteller für weitere Transformationsstufen bewerben.
Wo stehen die deutschen Primärstahlhersteller?
Dass jetzt Thyssenkrupp SE den eingeschlagenen Transformationskurs infrage stellt, mag mit dem neuen Investor Daniel Křetínský und dem Willen der Mutter-Holding Thyssenkrupp AG zusammenhängen, die Stahlsparte um jeden Preis abzustoßen. Durch die Aufhebung des Beherrschungsvertrages zwischen der TK-AG und der Stahlsparte TK-SE droht zum ersten Mal die reale Gefahr einer Insolvenz des größten deutschen Stahlwerkes in Duisburg mit 13.000 Beschäftigten.
Dadurch entsteht ein erhebliches Druckpotenzial, um bei Bund und Land neue staatliche Hilfen einzufordern. Das Dilemma ist hier, dass man die Stahlproduktion transformieren und halten möchte – allein als Leuchtturmprojekt des Industrieumbaus sowie als Ankernachfrager für den Wasserstoffhochlauf –, aber man sich gleichzeitig nicht erpressbar gegenüber dubiosen Investoreninteressen machen darf. Zurecht kämpfen hier die IG Metall, Umweltverbände und die Politik entschlossen für den Transformationskurs und gegen Stellenabbau.
Der fortschreitende Umbau bei der Salzgitter AG zeigt, dass man für eine ambitionierte Transformation am Standort über einen langen Zeitraum sogar deutlich mehr Beschäftigte braucht. Die Salzgitter AG ist im Gegensatz zu Thyssenkrupp zu 26,5 Prozent in öffentlicher Hand (Bundesland Niedersachsen) und bekennt sich nach wie vor klar zur Transformation. Ihre eigene Grünstahlmarke SALCOS soll eine der ersten werden, die sich mit dem neuen „Low Emission Steel Standard“ zertifizieren lässt. Hier war es der Betriebsrat, der den grünen Umbau aktiv eingefordert und maßgeblich vorangebracht hat. Heute sehen wir erste Erfolge. Im Oktober 2024 lieferte der Konzern schon CO2-reduzierten Elektrostahl an einen Automobilzulieferer in Südafrika.
Getreu dem Landesmotto „Großes entsteht immer im Kleinen“ läuft bei der Stahl-Holding-Saar (SHS) aktuell das „größte Dekarbonisierungsprojekt Europas“. Das Unternehmen in Stiftungshand mit dem Zweck, vor Ort Wertschöpfung und Arbeitsplätze zu erhalten, hat mit 2,6 Milliarden Euro die größte Fördersumme aller IPCEI-Projekte zugesichert bekommen. Trotz großer Entfernung zu Häfen und Wasserstoff-Importpipelines hat die SHS einen Transformationsplan für die beiden aktiven Hochöfen und damit die gesamte Produktionskapazität vorgelegt. Zudem entsteht im Saarland mit dem bis Ende 2027 vom BMBF geförderten Projekt „GreenSteelSkills“ ein innovatives Weiterbildungs- und Fortbildungsprogramm, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Beim multinationalen Konzern ArcelorMittal S.A. mit Sitz in Luxemburg pausieren die Transformationsprojekte an dessen deutschen Standorten zurzeit – trotz eines ausgestellten Förderbescheids. Das Familienunternehmen zieht die Schließung seiner Hochöfen in Bremen und Eisenhüttenstadt in Erwägung und favorisiert den Import von Eisenschwamm. Damit ist ArcelorMittal aus Transformationsperspektive derzeit der kritischste Fall. Trotz Beteuerung des Konzerns, die Klimaziele einhalten zu wollen, stellte sich im Sommer die Kampagne „Shiny Claims – Dirty Flames“ gegen die Greenwashing-Bestrebungen des Olympia-Sponsors.
Den Blick weiten – Chancen ergreifen
Es ergibt sich also ein gemischtes Bild, die Situation ist offen. Nicht alle Projekte werden langfristig Erfolg haben, doch im Wettbewerb wird der bestehen, der den Weg zur Klimaneutralität am entschlossensten geht. Mit einer neuen Fehlerkultur, die bei Misserfolg nicht verzagt, können die Lücken, die manche Unternehmen reißen, auch von anderen gefüllt werden. Klar ist: Bloßes Jammern aus der Industrie führt zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Stattdessen heißt es anpacken und loslegen.
Die deutsche Stahlindustrie ist mehr als nur Thyssenkrupp. Selbst wenn sich der deutsche Branchenprimus gegen das eigene Wasserstoff-Direktreduktionsprojekt entscheiden würde, wäre die Stahlsparte noch nicht am Ende. Auch in der Elektro- und Sekundärstahlproduktion aus Stahlschrott oder importiertem Eisenschwamm liegen noch große Potenziale. Gerade eine effizientere Kreislaufwirtschaft bietet hier einen starken Hebel: durch Verbesserungen in der Sammlung und Trennung von Schrott, der Erschließung neuer Quellen oder besseren Verwertung in der Weiterverarbeitung kann der Anteil von Sekundärstahl am Gesamtproduktionsvolumen noch steigen. Auch die Automobilindustrie fängt zaghaft an, das Potenzial der Kreislaufwirtschaft für die eigene Produktion zu erkennen.
Und nicht nur sektoral gilt es, den Blick zu weiten, sondern auch international. In Schweden, Spanien und Mauretanien gibt es vielversprechende Projekte, die durch die Zulieferung an deutsche Stahlhersteller helfen könnten, Preisnachteile auszugleichen. Selbst chinesische Stahlexporte können – in richtige Bahnen gelenkt – helfen, den Stahlhunger von Schwellenländern zu stillen. Es ist kein Naturgesetz, dass sie dafür Stahl aus Europa verdrängen müssen. Natürlich muss es mit den neuen Anlagen und der Wasserstoffinfrastruktur jetzt vorangehen. Auch hier gilt: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Was es jetzt braucht, ist der Aufbau von Leitmärkten für klimaneutralen Stahl. Die CDU/CSU hat jetzt die Chance zu zeigen, dass sie Regierungsverantwortung übernehmen kann, indem sie die Rumpf-Ampel bei der Umsetzung einiger notwendiger Fördermaßnahmen unterstützt, zum Beispiel bei der noch unabgeschlossenen Vergabereform. Dafür muss die Nachhaltigkeitsliste des Vergabetransformationspakets jedoch um klimafreundliche Grund- und Baustoffe erweitert werden.
Für Fairtrade-Bananen und Recycling-Toilettenpapier gibt es bereits einen Markt. Leitmärkte braucht es vor allem für die Produkte, die sich ohne klare Kaufsignale nicht von selbst durchsetzen. Dann wird der Industrieumbau auch gelingen.