Die Ziele stehen, die Entscheidungen sind gefallen und wie immer tickt die Uhr: Wir diskutieren nicht mehr über Klimaneutralität in Deutschland und Europa, wir müssen sie erreichen. Der Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen erhöhen den Druck, unser Energiesystem umzubauen und gleichzeitig die Grundlagen unserer Industriegesellschaft zu erhalten. Doch wie? Einigkeit besteht unter allen Akteuren derzeit nur in ihrer Ratlosigkeit. Der Umbau der Energielandschaft läuft zu langsam. Gleichzeitig wird die Situation im Stromnetz volatiler, während sich die Industrie um die Versorgung sorgt.
Der Strommarkt hält für die neuen Herausforderungen keine passenden Antworten parat. Deswegen entstehen regelmäßig neue Sonderregeln und zusätzliche Reserven, die alle den Strompreis erhöhen. Und wir wissen jetzt schon: Die Herausforderungen werden immer größer – die nächste Phase der Energiewende ist eine Operation am offenen Herzen. Damit diese Operation gelingt, müssen wir koordiniert und systemorientiert vorgehen, statt hektisch jeden kleinen Notfall zu verarzten.
Auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität tauschen wir zentrale Organe unseres Energiesystems aus. Die klassische Erzeugung fällt zunehmend weg, stattdessen brauchen wir neue gesicherte Leistung. Gleiches gilt für die Systemdienstleistungen: Für Blindleistung aus Kraftwerken gibt es bereits Alternativen, aber Momentanreserve wird erst jetzt zum Thema – das sind Stromquellen, die bei Schwankungen quasi sofort zur Verfügung stehen. Der EOM 2.0, der rein auf die Kilowattstundenlieferung ausgerichtete Markt, der derzeit im Großen und Ganzen gilt, wurde nicht konzipiert, um Antworten für diese Herausforderungen zu bieten. Für die anstehende Phase in der Energiewende wird er alleine nicht reichen – gut funktionierende Teile, wie die liquiden Spot- und Terminmärkte, sollten dabei weiter genutzt werden.
Der Systemmarkt als zentrale Plattform
Ein erweitertes Strommarktdesign muss Abhilfe schaffen und den Wandel des Energiesystems stützen: Es kann die neuen Anforderungen der Energiewende pragmatisch bündeln und harmonisieren und dabei die Effizienz von Marktlösungen erhalten. In der kommenden Legislaturperiode sollten wir den Strommarkt so aufzusetzen, dass er drängende Fragen beantwortet: Wie können Systemdienstleistungen sichergestellt werden? Wie werden Ressourcen im Energiesystem so eingesetzt, dass sie der Volkswirtschaft dienen? Antworten hierauf liefert der so genannte Systemmarkt. Dieses Konzept wurde von Amprion entwickelt und wir schlagen es als politisches Reformprojekt für die kommende Legislaturperiode im Bund vor.
Der Systemmarkt ist ein modulares Marktdesign. Er bietet eine Plattform für die Beschaffung verschiedener Systemdienstleistungen im Energiesystem der Zukunft. Dadurch werden Anreize für Anlagen gesetzt, die das Netz stabilisieren – und an den richtigen Stellen im Netz die richtigen Leistungen erbringen.
Der Systemmarkt ist außerdem integriert, transparent und technologieoffen. Er bietet eine Plattform und verbindet so einzelne Teilmärkte des Energiesystems der Zukunft – mit allen seinen technischen Aspekten. Die wichtigsten Grundsätze im Detail:
Integriert und transparent: Für ein stabiles Netz brauchen wir Netzbetreiber Systemdienstleistungen. Bislang haben Kraftwerke viele dieser Leistungen automatisch mitgeliefert, oft sogar unentgeltlich. Nun wandelt sich nicht nur die Erzeugungslandschaft, sondern gleichzeitig ändern sich auch das Netz und seine Bedarfe. Deutschlandweite Beschaffungsverfahren für diese Leistungen sind nicht immer effizient – von Landstrich zu Landstrich ändert sich das Gesicht der Energiewende. In manchen Regionen gibt es genug Blindleistung, aber dafür keine schwarzstartfähigen Kraftwerke. Andernorts fehlt es an Momentanreserve. Alle diese Besonderheiten müssen berücksichtigt werden. Der Systemmarkt liefert lokale Antworten und sichert damit das große Ganze.
Bestimmte Leistungen allokiert der Markt nicht effizient. Sie sollten daher über technische Anschlussregeln oder direkt durch den Netzbetreiber erbracht werden. Für alle anderen Fälle ist eine marktliche Beschaffung aber möglich, wenn die Marktteilnehmer die entsprechenden Informationen haben. Der Systemmarkt kann mittels einmaliger oder regelmäßig wiederkehrender Auktionen diese Informationen bereitstellen oder über Prämienzahlungen Leistungen anreizen.
Modular: Da der Systemmarkt eine Plattform für Teilmärkte ist, die verschiedene technische Bedarfe unseres künftigen Energiesystems abdecken, ist er grundsätzlich modular. Einige Koordinaten dieses Energiesystems kennen wir schon, andere wiederum entstehen gerade erst. Das modulare Prinzip ermöglicht uns, die aktuellen Bedarfe zu decken, das Marktdesign schrittweise zu ergänzen und flexibel weiterzuentwickeln. Auch für Fragen, die wir heute noch nicht kennen, kann der Systemmarkt Antworten finden – ohne dass wir Grundsatzdebatten führen müssen.
Technologieneutral: Der Systemmarkt setzt Anreize für Erzeuger oder Speicher, das Energiesystem optimal zu stützen. Und die Anforderungen sind für alle gleich, alle Technologien sind gefordert. So entsteht ein räumliches Allokationssignal, damit etwa neue Gasturbinen oder große Speicher dort gebaut werden, wo sie auch einen Beitrag für ein stabiles Netz in Deutschland leisten können.
Die pragmatische Transformation des EOM 2.0 zum Systemmarkt stärkt die System- und Versorgungssicherheit in dieser kritischen Phase der Energiewende – je früher, desto besser. Der Markt befindet sich gerade im Umbruch. Bei einem CO2-Preis von 60 Euro pro Tonne haben die ersten Marktteilnehmer bereits angefangen, über den Neubau von effizienten und modernen Erzeugungsanlagen nachzudenken. Mit dem Systemmarkt können wir dafür sorgen, dass sie das System so sicher wie möglich machen. So kann die Operation am offenen Herzen gelingen.