Standpunkte Beaufsichtigen als neue Herausforderung

Unschädlichkeit zu organisieren, das ist die Kernaufgabe von Aufsichtsbehörden. Doch was sich früher aus eindeutigen Rechtsnormen ableiten ließ, weicht in der Aufsichtspraxis einer zielorientierten Agilität, die Behördenmitarbeiter vor eine neue Herausforderung stellt: nämlich selbst möglichst schnell die richtigen Entscheidungen zu fällen. Fehlerkultur muss aber erlernt sein, schreiben die Regierungsberater und Uni-Professoren Sven Kette und Stefan Kühl in ihrem Standpunkt-Gastbeitrag.
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Jetzt kostenfrei testenKaum eine Organisation kann der Forderung widerstehen, angesichts einer komplexer werdenden Umwelt agiler zu arbeiten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass weltweit auch die Aufsichtsbehörden unter Druck geraten, sich dem Leitbild der Agilität zu verschreiben. Aber gäben sie diesem Druck unmittelbar nach, dann würden sie ihren Zweck verfehlen. Schließlich haben sie die Aufgabe, im Auftrage des Staates sicherzustellen, dass sich die von ihnen beaufsichtigten Energieversorger, Atomkraftwerke, Banken, Versicherungen, Verkehrsunternehmen, Automobilhersteller oder Gaststätten an die gesetzlichen Regeln halten.
Sicherlich spricht nichts dagegen, wenn in Aufsichtsbehörden flexibel auf sich plötzlich abzeichnende Risiken reagiert wird, wenn auf neue Themenstellungen schnell Antworten gefunden werden und dafür auch verschiedene Abteilungen zusammenwirken. Aber schon die Bindung an Gesetze und Verordnungen reduziert zwangsläufig die Möglichkeiten der Agilität. Alle Wendigkeiten sind nur innerhalb des durch den Gesetzgeber und die Ministerien vorgegebenen Rahmens möglich – und dieser ist in der Regel sehr eng. Um zu begreifen, welche Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieses Rahmens bestehen, ist es nötig zu verstehen, wie Aufsichtsbehörden „ticken“, wie sie im Regelfall reagieren und wie sie mit Krisen umgehen.
Die Risikoaversion von Aufsichtsbehörden
Als Aufsichtsorganisationen versteht man jene Behörden, die das Handeln anderer lizenzieren und prüfen. Manchmal handelt es sich bei diesen Anderen um Einzelpersonen, häufiger jedoch um Organisationen. Im Kern geht es in der Arbeit von Aufsichtsbehörden darum, die Einhaltung regulatorischer Vorschriften zu überwachen und damit ein schadloses Operieren sicherzustellen. Im Falle von Verstößen drängen die Aufsichtsbehörden entweder darauf, dass die Beaufsichtigten ihre Prozesse nachbessern, oder sie lassen deren Betrieb einstellen.
Für Aufsichtsbehörden gilt wie für alle Organe der öffentlichen Verwaltung, dass sie in hohem Maße rechtsgebunden operieren. Alle Entscheidungen, die von ihnen getroffen werden, finden letztlich ihren Halt in Gesetzestexten oder in Gesetze spezifizierenden Verordnungen. Diese Rechtsgebundenheit ist der zentralen Stützpfeiler der von Verwaltungen eingeforderten Sachorientierung. Weder soll und darf es einen Unterschied machen, wer einen Antrag stellt, noch, wer diesen Antrag bearbeitet.
Für Verwaltungsmitarbeiter ist unter den skizzierten Umständen die korrekte und fehlerfreie Anwendung von Regeln ein durchaus plausibler Bezugspunkt und Maßstab sowohl für die Orientierung des eigenen Handelns wie auch für die Bewertung des Handelns der Kollegen.
Diese Orientierung zeigt sich wie durch ein Brennglas im Verhalten der Mitarbeiter von Aufsichtsbehörden. Die Mitarbeiter sind auf das Aufspüren von Fehlern in den von ihnen beaufsichtigten Firmen getrimmt. Angesichts dieser Null-Fehler-Politik gegenüber den überwachten Organisationen fällt es schwer, innerhalb der Aufsichtsorganisationen einen produktiven Umgang mit eigenen Fehlern zu pflegen. Im Umgang mit Entscheidungen, die sich später als Fehler herausstellen könnten, dominiert ein Vermeidungsimperativ. Das Begriff einer „Fehlerkultur“, in der eigene Fehler als Lernchancen interpretiert werden, ist an das Selbstverständnis von Aufsichtsbehörden nur begrenzt anschlussfähig.
Von eindeutigen Regeln zu unterbestimmten Prinzipien
Im Idealfall basieren die Entscheidungen von Verwaltungen auf eindeutigen Regeln. Regeln können umso umstandsloser zur Grundlage des eigenen Entscheidens gemacht werden, je eindeutiger diese Regeln formuliert sind. Dies ist vor allem der Fall, wenn Entscheidungen auf der Grundlage von „wenn-dann-Regeln“ getroffen werden. Etwa: Wenn eine zuvor definierte Eigenkapitalquote einer Bank unterschritten wird, dann darf diese keine weiteren Kredite vergeben.
Eine zentrale Herausforderung für Aufsichtsbehörden besteht darin, dass eindeutig formulierte Regeln als Basis für ihre Entscheidung zunehmend an Bedeutung verlieren. Vor dem Hintergrund der Komplexität der Anforderungen bei der Regulierung des Finanz-, Verkehrs- und Telekommunikationssektors wird inzwischen auf eine allzu detaillierte Ausformulierung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen verzichtet. An die Stelle von mehr oder weniger eindeutigen Regeln treten offener gehaltene Prinzipien.
Diese sogenannte „principles based regulation“ ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht Bedingungen formuliert, die eingehalten werden müssen, sondern Effekte, die auf keinen Fall eintreten dürfen. Die Entscheidungen der Aufsichtsbehörde folgen einer Logik der Folgenorientierung. So gilt es etwa für die Bankenaufsicht zu prüfen, inwiefern die von Banken verwendeten Verfahren zur Risikobewertung angemessen sind, um die Folge einer Bankenpleite zu verhindern. Die Herausforderung besteht dabei darin, dass der Begriff der Angemessenheit selbst ausgedeutet werden muss. Er liefert gerade keine klaren Kriterien, die mit Hilfe eines simplen „checkboxing“ abgeprüft werden könnten.
Das macht die Entscheidungen von Aufsichtsbehörden zunehmend anspruchsvoller. Die Wahrscheinlichkeit, dass unter diesen Bedingungen Entscheidungen getroffen werden, die sich später als ein Fehler herausstellen, ist nicht gering.
Die Spannung von Richtigkeit und Schnelligkeit
Alle Aufsichtsbehörden bewegen sich in einem grundlegenden Spannungsfeld. Auf der einen Seite müssen Aufsichtsbehörden Banken, Versicherungen, Energieversorger oder Restaurants so genau prüfen, dass es zu keinen Bankinsolvenzen kommt, die Energiesicherheit gewährleistet bleibt und Kunden sich nicht vergiften. Um hier die richtigen Entscheidungen zu treffen, können Aufseher den Anspruch erheben, sich die Zeit zu nehmen, die für eine sorgfältige Prüfung nötig ist. Auf der anderen Seite kann sich eine Aufsichtsbehörde aber bei allen Genauigkeitsanforderungen nicht beliebig viel Zeit lassen. Die Herausforderung von Aufsichtsbehörden, die leicht zu Überforderungseffekten bei ihrem Personal führen kann, besteht darin, dass sich der Druck in Bezug auf die Richtigkeit der Entscheidung nicht verringert, während sich der Druck in Bezug auf die Geschwindigkeit der Entscheidung gleichzeitig noch erhöht.
Mit der Umstellung auf ein prinzipienbasiertes Prüfungsregime nehmen die Sicherheiten für die Aufseher immer weiter ab, weil klare Maßstäbe zur Richtigkeitsbewertung einer Entscheidung fehlen, wie „wenn-dann-Regeln“ sie liefern. Häufig stellt sich so erst im Nachhinein heraus, ob die nur noch auf Prinzipien basierenden Entscheidungen der Aufseher die richtigen gewesen sind, oder ob sie dem Aufseher als Fehler vorgehalten werden können.
Aber auch in Bezug auf die Geschwindigkeit von Entscheidungen hat sich der Druck erhöht. Nicht nur erfordern die dynamischen Entwicklungen in den regulierten Feldern häufig zügige Entscheidungen, sondern auch von der Politik wird zunehmend ein Verständnis genährt, das behördliche Entscheidungen als öffentliche Dienstleistungen propagiert. Dazu gehört auch, dass Entscheidungen mit einer für den Beaufsichtigten akzeptablen Geschwindigkeit getroffen werden.
Zum organisatorischen Umgang mit dem Spannungsfeld
Bis zu einem bestimmten Grad sind Aufsichtsbehörden in der Lage, dieses Spannungsfeld organisatorisch abzufedern. Dabei werden die unterschiedlichen Anforderungen innerhalb einer Aufsichtsbehörde auf spezialisierte Bereiche, Abteilungen oder Teams aufgeteilt. Die jeweiligen Einheiten entwickeln aufgrund der ihnen zugewiesenen Aufgaben Eigenlogiken und eigene Interessen, die sich von denen anderer Einheiten unterscheiden.
Je komplexer die Genehmigungs- und Prüfungsanforderungen an eine Aufsichtsbehörde sind, desto notwendiger wird es, dass diese verschiedenen Einheiten bei einer Prüfung zusammenwirken. Viele Aufgaben einer Aufsichtsbehörde lassen sich dann nicht mehr innerhalb eines Referats, einer Abteilung oder eines Bereichs abarbeiten, sondern können nur durch deren Kooperation bewältigt werden.
Ausdruck findet diese Entwicklung in den Diskussionen über Formate abteilungsübergreifender Zusammenarbeit. Die in Verwaltungen über Jahrzehnte etablierten Mitzeichnungsverfahren verschiedener Abteilungen kondensieren die notwendigen Informationen jedoch zu stark und sind zu langsam, um die neuen Geschwindigkeitsanforderungen zu erfüllen. Es wird deswegen in Aufsichtsbehörden zunehmend auch mit in der Formalstruktur verankerten Formen der Zusammenarbeit experimentiert, mit denen die Expertisen aus verschiedenen Einheiten zusammengetragen werden können.
Idealerweise funktioniert die Zusammenarbeit über Bereichs-, Abteilungs- und Teamgrenzen hinweg, ohne dass dabei die Hierarchie eingeschaltet werden muss. Gerade bei wiederkehrenden Genehmigungs- und Prüfungsaufgaben könnten die zusammenarbeitenden Aufseher sich so gut einschätzen, dass sie auf eine enge Einbindung der Hierarchie verzichten können. Zugleich steigen bei dieser Zusammenarbeit über Grenzen organisationaler Einheiten hinweg die Anforderungen an Führungskräfte, weil sich nicht alle aus unterschiedlichen lokalen Rationalitäten resultierenden Konflikte von den Mitarbeitern selbst entscheiden lassen.
Führungskraft zu sein, bedeutet in Aufsichtsbehörden dann nicht mehr vorrangig, die Mitarbeiter im eigenen Bereich, in der eigenen Abteilung oder im eigenen Referat zu führen, sondern mit Kolleginnen und Kollegen auf der gleichen hierarchischen Ebene zu Lösungen zu kommen. Dies ist auch deswegen anspruchsvoll, weil schwerer zu antizipieren ist, wem Erfolge, Misserfolge und Fehler zugerechnet werden. Auch diese Praxis wird daher eine Phase der Einübung und damit ihrerseits Zeit erfordern.
Zum professionellen Selbstverständnis in Aufsichtsbehörden
Trotz der Möglichkeiten, die konkurrierenden Anforderungen abzumildern, verstärkt sich der Druck auf die einzelnen Aufseherinnen und Aufseher. Sicherlich – die Verschärfung der Spannung zwischen Richtigkeit und Schnelligkeit ist zuallererst eine Herausforderung für die Aufsichtsorganisation. Innerhalb der Aufsichtsorganisationen werden sie dann aber schnell zu Herausforderungen für das Personal – vor allem, weil eine Arbeitsweise verlangt wird, welche in Widerspruch zu etablierten Anforderungen und Gewissheiten steht.
Klassischerweise sind die bürokratischen Strukturen von Aufsichtsorganisation eher auf eine Neutralisierung des Personals ausgerichtet: Bei Kenntnis des Sachverhalts lassen sich die Entscheidungen aus den Regeln ableiten. Im Kontext eines zunehmend prinzipienbasierten und dynamisierten Aufsichtsmodus wandelt sich diese vormals eher passive Rolle des Personals hin zu einer deutlich stärker aktiven Rolle. Wo Regeln allenfalls noch als Leitplanken fungieren, besteht die Aufgabe des Personals weniger darin, Regeln anzuwenden, als vielmehr darin, Regulierungszwecke zu operationalisieren.
Gefragt ist nun die Fähigkeit, unter Unsicherheit zu agieren und zu entscheiden. Dies setzt eine gesteigerte Unsicherheitstoleranz voraus. Es erfordert zudem eine erhöhte Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme: Wo Regeln keinen festen Halt bieten, muss dieser durch die Entscheidungen des Personals selbst gestiftet werden. Damit erhöht sich aber auch die Anfälligkeit für Fehler – beziehungsweise für Fehlerzurechnungen.
Angesichts dieser Herausforderung ist es für die Organisationsspitze verlockend, von den Mitarbeitern ein „neues Denken“, eine „flexiblere Haltung“ und ein „agileres Mindset“ zu fordern. Dabei wird so getan, als ob es von der Umstellung des Denkens, der Einnahme einer neuen Haltung oder der Übernahme eines anderen Mindsets abhängen würde, ob eine Aufsichtsbehörde schneller und effizienter wird. Sicherlich spricht in Aufsichtsbehörden nichts gegen mehr Mut im Vorgehen, stärkere Risikobereitschaft, größere Lernfähigkeit und konsequenteres Handeln. Es besteht aber die Gefahr, dass durch solche Forderungen die Spannungsfelder, in denen sich die Aufseherinnen und Aufseher bewegen, unsichtbar gemacht werden, was ein zögerliches Agieren eher befördern dürfte.
Eine Alternative besteht darin, die Professionalität des Personal darin zu sehen, sich situativ immer wieder neu in diesem Spannungsfeld von Präzision und Schnelligkeit zu verorten. Dies kann auch die Basis für ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Aufseherinnen und Aufseher sein, die ihre Aufgabe nicht mehr vorrangig in der Anwendung sicherer Regeln sehen, sondern in der Bereitschaft zur Entscheidung trotz Unsicherheiten. Inwiefern dies gelingt, wird dabei vor allem davon abhängen, ob die Strukturen in den Aufsichtsorganisationen so gestaltet werden können, dass die Übernahme von Verantwortung tragbar erscheint.
Eine Langfassung des Arguments findet sich unter https://budrich-journals.de/index.php/dms/article/view/45520
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