Verkehr-Smart-Mobility icon

Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Das Potenzial für den Klimaschutz wird unterschätzt

Bernhard Knierim, Referent für Verkehrspolitik und Projekte bei der Allianz pro Schiene und Vereinsvorstand bei Back on Track Germany
Bernhard Knierim, Referent für Verkehrspolitik und Projekte bei der Allianz pro Schiene und Vereinsvorstand bei Back on Track Germany Foto: Allianz pro Schiene

Die jüngste Studie zu Nachtzügen greift zu kurz. Sie unterschätzt deren Potenzial. Die darin getroffenen Annahmen weisen blinde Flecken auf. Wichtig ist nun vor allem, dass die Politik Maßnahmen umsetzt, um die steigende Nachfrage nach Nachtzug-Verbindungen zu decken.

von Bernhard Knierim

veröffentlicht am 21.01.2025

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Nachtzüge ermöglichen Reisen mit der Bahn, welche die meisten Menschen sonst als viel zu lang empfinden würden. Acht bis zwölf Stunden Zugfahrt im Sitzen sind eher etwas für echte Bahn-Enthusiasten. Wenn man dabei aber ausgeschlafen am nächsten Morgen am Zielort ankommen kann, ist die Bahn für viele eine echte Alternative zum Flugzeug. Mehr Nachtzugverbindungen sind also ein Schlüssel dafür, Verkehr auf die Schiene zu verlagern und damit das Klima zu schützen.

Diskutiert wird allerdings, wie groß dieser Effekt sein kann und was es bräuchte, um das Netz von Nachtzugverbindungen nach dem Niedergang ab den 1990er Jahren und einer leichten Erholung in den letzten Jahren wieder stärker auszuweiten. Um diese Frage zu beantworten, hat das Bundesverkehrsministerium (BMDV) gleich mehrere Studien rund um den Nachtzugverkehr in Auftrag gegeben. Eine davon hat das Beratungsunternehmen Ramboll durchgeführt und im Dezember veröffentlicht.

Das grundsätzliche Ergebnis ist dabei weder überraschend noch strittig: Nachtzüge können durch die Verlagerung sowohl von Flug- als auch von Autoverkehr auf die Schiene einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, und ihr Potenzial dafür ist bislang noch nicht ausgeschöpft. Für das Entstehen vieler neuen Linien braucht es aber bessere wirtschaftliche und technische Rahmenbedingungen. Die Studie ist dabei auch ein guter Fundus für viele Daten und Fakten rund um den Nachtzugverkehr.

Kritik an der Methodik der Studie

Dennoch greift die Studie meiner Ansicht nach an mehreren Stellen zu kurz und unterschätzt das Potenzial der Nachtzüge noch deutlich. Am augenfälligsten: Die Untersuchung ist auf Verbindungen von und nach Deutschland beschränkt. Diese Engführung ist aber nicht den Autor:innen vorzuwerfen, da sie dem Auftrag entspricht. Dennoch bildet die Studie damit natürlich nur einen Teil des Nachtzugnetzes ab, das in ganz Europa sinnvoll und möglich wäre – darunter auch Linien, die zwar durch Deutschland hindurchführen, aber vorwiegend unsere Nachbarländer miteinander verbinden.

Die Autor:innen der Studie haben 79 „grundsätzlich denkbare und routentechnisch realistische neue Nachtzugverbindungen“ identifiziert, die allerdings in der Studie selbst gar nicht aufgeführt werden. Es werden lediglich die Kriterien für diese Linien benannt. Nur anhand der Verbindungen selbst könnte man jedoch deren Auswahl bewerten und ob möglicherweise vielversprechende Strecken fehlen. Zugrunde gelegt wird dabei eine Obergrenze von 1500 Kilometern maximale Entfernung über Nacht. Es wären jedoch auch noch deutlich längere Strecken möglich, wenn zukünftige Nachtzüge – so wie beispielsweise bereits der neue „NightJet 2“ der ÖBB – auch Hochgeschwindigkeits-fähig sind.

Dabei kann es auch Sinn ergeben, Strecken so zu verlängern, dass zusätzliche Städte vor der idealen Abfahrtszeit am Abend beziehungsweise nach der idealen Ankunftszeit am Morgen angebunden werden, um die Auslastung des Zuges damit zu erhöhen. Beispielsweise könnte ein denkbarer Nachtzug Frankfurt – Barcelona (eine mögliche Strecke mit einigem Potenzial, wenn nachts die französischen Hochgeschwindigkeitsstrecken nutzbar wären) am späten Nachmittag schon in Berlin starten und/oder im Nachlauf Madrid noch mit anbinden.

Ob mit oder ohne Umstieg: Aus der Studie ist nicht direkt ersichtlich, ob und wie die Anbindung weiterer Städte und Regionen im Vor- und Nachlauf der Nachtzüge bewertet wurde. Durch den Netzwerkeffekt der Schiene gibt es noch erhebliches Potenzial weiterer Fahrgäste jenseits der direkten Nachtzugstrecke, zumal der Umstieg zwischen Zügen wesentlich schneller und einfacher ist als zwischen Bahn und Flugzeug.

Potenzial für Wirtschaftlichkeit unterschätzt?

Die Studie fokussiert auf den Umstieg vom Flugzeug auf den Zug, was mit Blick auf die Klimawirkung erstmal sinnvoll ist. Das Potenzial des Wechsels vom Auto auf den Nachtzug schätzt sie hingegen eher gering ein. Dies könnte vor allem an der Betrachtung von Verbindungen zwischen Metropolen mit relativ kleinen „Einzugsräumen“ liegen. Tatsächlich dürften aber nicht wenige Autofahrer:innen auch jenseits dieser Räume zum Wechsel auf neue Nachtzüge bereit sein, indem sie Zubringer-Verkehre nutzen.

Überhaupt nicht betrachtet werden zudem potenzielle Umsteiger vom Fernbus und dem Tages-Bahnverkehr. Deren Wechsel auf Nachtzüge hätte zwar keinen positiven Effekt auf das Klima, könnte aber dennoch erheblich zur Wirtschaftlichkeit beitragen. Und ein weiterer Effekt wird in der Studie außer Acht gelassen: Nicht alle Reisenden sind auf ein bestimmtes Ziel festgelegt, sondern alternative – mit dem Nachtzug gut erreichbare – Ziele könnten den gleichen Zweck erfüllen, zum Beispiel die Erholung am Meer.

Eher konservativ ist zudem auch die Annahme, dass maximal zehn bis 30 Prozent der Bevölkerung bereit wären, vom Flugzeug auf den Nachtzug zu wechseln. Umfragen zeigen ein deutlich größeres Wechsel-Potenzial – wenn die Verbindungen attraktiv und erschwinglich sind (beispielsweise diese YouGov-Studie von 2021). Die Studie betrachtet außerdem lediglich eine traditionelle Standard-Nachtzug-Konfiguration, jedoch nicht den Einfluss verschiedener Komfortkategorien oder neuer Konzepte wie Mini-Cabins statt klassischer Liegewagen auf die Wechsel-Bereitschaft.

Wie sich der Nachtzugverkehr ankurbeln ließe

All dies ist insbesondere deswegen entscheidend, da Verbindungen mit prognostizierten Reisendenzahlen unter 100.000 pro Jahr in der Studie verworfen wurden. Zudem könnten manche Verbindungen sogar mit weniger Reisenden pro Jahr wirtschaftlich sein, indem sie nur an einigen Nächten in der Woche angeboten werden oder nur saisonal verkehren. In der Studie werden aufgrund der Annahmen jedoch von den ausgewählten 79 Linien letztlich nur 13 bis 42 Verbindungen als wirtschaftlich tragfähig bewertet. Dies führt meiner Ansicht dazu, dass das in der Studie geschätzte Klimaschutz-Potenzial der Nachtzüge – zwischen 0,21 und 2,26 Mio. t CO2e-Einsparungen – deutlich zu niedrig ist.

Diese Abschätzung ist auch wesentlich geringer als die in der Studie von Back on Track prognostizierte Klimawirkung – auch wenn man berücksichtigt, dass diese Studie ganz Europa betrachtet statt nur Verbindungen von/nach Deutschland. Eine gemeinsame Diskussion über die unterschiedlichen Annahmen dieser Studien wäre sicherlich aufschlussreich, um die Prognosen zu verbessern.

Noch wichtiger als die Debatte um Prognosen sind aber die Maßnahmen, um das Entstehen neuer Nachtzuglinien zu begünstigen. Schon heute ist die Nachfrage fast durchweg deutlich höher als das Angebot, und es bräuchte dringend mehr Nachtzug-Wagenmaterial. Die Unternehmen sind jedoch bislang zurückhaltend mit Investitionen. Hier schlägt die Studie mehrere sinnvolle politische Maßnahmen zur Unterstützung des Nachtzugverkehrs vor – von Standardisierung und einfacherer internationaler Zulassung über die Trassenverfügbarkeit bis zu verlässlichen Rahmenbedingungen.

Die Streichung der Mehrwertsteuer auf internationale Bahntickets, die damit dem Flugverkehr gleichgestellt würde, und eine Senkung der Trassenpreise schätzen die Autor:innen hingegen als wenig effektiv ein. Damit unterscheiden sie sich deutlich von der Einschätzung der NGO Transport & Environment oder des Pro-Nachtzug-Netzwerks Back on Track, die hier einen von mehreren Hebeln für attraktivere Preise und damit mehr Nachtzügen sehen.

Überdies stellt sich die Frage, ob tatsächlich jede einzelne Nachtzugverbindung für sich wirtschaftlich sein muss oder ob auch eine in mehreren EU-Ländern bereits umgesetzte staatliche Unterstützungen bestimmter Linien durch Public Service Obligations (PSOs) sinnvoll sein könnte – insbesondere da der 28 Mal klimaschädlichere Flugverkehr von Subventionen wie der Kerosinsteuerbefreiung oder der Mehrwertsteuerbefreiung auf grenzüberschreitende Tickets profitiert.

Entscheidend wäre aber, dass das BMDV jetzt vom Studien-Modus in den Handlungs-Modus übergeht und zügig Maßnahmen umsetzt, damit die zunehmende Nachfrage nach Nachtzugreisen durch viele neu entstehende Linien gedeckt werden kann.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen