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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Wie der ÖPNV endlich nachhaltig, fair und einfach wird

Benjamin Scher, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Movingfutures und Professor für Strategisches Management an der International School of Management
Benjamin Scher, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Movingfutures und Professor für Strategisches Management an der International School of Management Foto: privat

Der Versuch, privatwirtschaftliche Geschäftsmodelle für öffentliche Verkehre zu etablieren, ist gescheitert. Ohne öffentliche Zuschüsse geht es nicht. Um das Mobilitätsangebot für alle zu verbessern, muss beides zusammenspielen, indem die Anbieter staatliche Gelder gegen Daten, Kundenzugänge und Algorithmen erhalten.

von Benjamin Scher

veröffentlicht am 23.01.2025

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Spätestens mit dem Deutschlandticket ist das Thema Mobilitätsangebot endlich wieder auf die Hauptbühne des öffentlichen Diskurses gehoben worden. Seitdem diskutieren Experten, hochrangige Politiker und Stammtische gleichermaßen, was es braucht, um den öffentlichen Verkehr positiv zu gestalten. Dabei haben wir wie so oft kein Erkenntnisproblem. Doch eine nachhaltige Umsetzung muss viel tiefer ansetzen, als es die heutigen Finanzierungs- und Nutzungssysteme zulassen – nämlich bei der grundlegenden Art und Weise, wie wir öffentlichen Verkehr (und dessen Finanzierung) organisieren.

Die Trennung in privatwirtschaftliche und öffentliche Verkehre muss endgültig überwunden werden – so simpel gesagt, so schwierig in der Umsetzung. Mobilität ist ein Grundrecht, und nur ein mobiler Mensch kann sinnvoll am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben. Daher ist es absolut angemessen, dass öffentlicher Verkehr aus der Solidargemeinschaft heraus bezahlt wird. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch insbesondere im urbanen Raum neue private Mobilitätsformen etabliert, die mit großen Versprechungen, aber häufig auch mit großen Ernüchterungen eingeschlagen sind.

Finanziert vor allem in einer Zeit, in der die Zinsen niedrig waren und das Wagniskapital entsprechend locker saß, versuchten zahlreiche Mobilitätsanbieter Fuß zu fassen. Dabei vereinte alle die mehr oder weniger explizit kommunizierte These, jetzt endlich mal den analogen verstaubten öffentlichen Verkehr zu disruptieren; und zwar mit privatwirtschaftlichen Mitteln, also mit einem mittel- bis langfristigen positiven Business Case. Das hat bis heute keiner geschafft. Die Investitionen und Entwicklungskosten erwiesen sich als zu kapitalintensiv, die betrieblichen Herausforderungen als zu komplex und arbeitsintensiv, als dass mit realistischen Nutzungsmustern sinnvoll gegenfinanziert werden könnte.

Private Anbieter haben wichtige Veränderungen angestoßen

Gleichzeitig haben die neuen Mobilitätsangebote einige elementare und wichtige Veränderungen im Mobilitätsbereich etabliert. Öffentlicher Verkehr muss nicht starr sein (in Raum und Zeit) und muss nicht über Jahre fest geplant werden. Vielmehr können Angebote zum Beispiel in Bezug auf Ausbringungsmenge, Verfügbarkeit, „Haltestellen“ und Routen dynamisch, flexibel, individuell und digital angepasst werden.

Das Maß an Kundenorientierung erreichte neue Maßstäbe, denn am Ende mussten Menschen überzeugt werden, ihr privates Geld zu investieren – nicht öffentliche Prozesse ihre Budgets. Damit einher ging eine Veränderung des Fokus weg von aggregierten Verkehrsströmen, hin zu individuellen Reiseverhalten – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem öffentlichen Verkehrssystem, das Kunden nutzen wollen, nicht müssen.

Also zurück auf Anfang: Öffentlicher Verkehr wird aus der Solidargemeinschaft heraus bezahlt – die Alternative hat nicht funktioniert. Heute stehen wir vor der Aufgabe, den traditionellen ÖPNV und neue Mobilitätsformen so zu verbinden, dass sie gemeinsam ihr volles Potenzial entfalten – für eine nachhaltige, faire und nutzerfreundliche Mobilität. Der einfachere Anfang ist, die Dichotomie zwischen alter und neuer Welt endgültig ad acta zu legen und alle Mobilitätsangebote gleichermaßen mit ihren Stärken und Schwächen zu verbinden.

Öffentliche Finanzierung gegen Daten und Kundenzugänge

Die Quintessenz daraus ist eindeutig, aber in der Umsetzung schwierig, doch lassen Sie uns einmal träumen: Neue Mobilitätsformen brauchen ebenfalls öffentliche Gelder (mehr als nur zeitlich begrenzte Projektmittel), im ÖPNV-Sprech: Sie müssen in die Regelfinanzierung. Aber: Die Subventionierung bestimmter Mobilitätsangebote, die heute noch klassisch privatwirtschaftlich funktionieren, wird nicht umsonst passieren. Wenn wir die öffentlichen Portemonnaies öffnen, dann müssen im Gegenzug die Betreiber auch ihre digitalen Schatzkisten öffnen.

Was verbirgt sich darin? Für die meisten digitalen Mobilitätsangebote liegen dort ihre vermeintlichen Wettbewerbsvorteile: ihre Daten, ihre Kundenzugänge, ihre Algorithmen und ihre Optimierer. Mit diesen sind sie in der Lage, ihre jeweiligen Flotten hochautomatisiert effizient zu steuern. Diese Optimierer beantworten beispielsweise Fragen des Dispatchings (welches Fahrzeug bedient welche Fahrtanfrage), des Rebalancings (wo werden ungenutzte Fahrzeuge platziert, damit sie möglichst effizient wieder ihren Zweck erfüllen können) oder der Wartungsplanung (wann wird welches Fahrzeug gereinigt, geladen et cetera).

Dabei ergeben sich zwei große Probleme. Erstens, die einzelnen Betreiber optimieren im Silo, also jeder für sich. Eine sinnvolle Koordinierung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern passiert nicht oder nur in einzelnen fortschrittlichen Ausnahmefällen. Ist die Nachfrage am Hauptbahnhof also hoch vorhergesagt, werden alle Flotten dorthin bewegt.

Zweitens, Stand jetzt arbeiten all diese Optimierer auf ein Ziel hin: Gewinnmaximierung – am Ende geht es darum, die vorhandenen Ressourcen bestmöglich einzusetzen, um maximalen Ertrag zu generieren. Ertrag ist hier rein finanziell betrachtet, nicht als Ertrag im Gemeinwohlsinne. Im Ergebnis werden bestimmte Stadtteile – beispielsweise solche mit geringerer Kaufkraft/Nutzungsrate – systematisch benachteiligt, wie sich zum Beispiel beim Platzhirschen Uber in den USA zeigt. Das steht diametral zu einem genuinen öffentlichen Interesse an einem fairen und verfügbaren öffentlichen Mobilitätsangebot. Doch die Lösung ist klar: Wer A sagt, muss auch B sagen, öffentliche Gelder, also Finanzierbarkeit, gegen Zugriff und Entscheidungsfähigkeit im öffentlichen Sinne.

Ländliche Räume sind gesondert zu betrachten

Konkret sähe ein solches Modell so aus: Die (privaten) Mobilitätsanbieter erhalten finanzielle Zuschüsse für den Betrieb in einer Stadt, dafür müssen Sie einer übergeordneten Instanz Zugriffe und Entscheidungsgewalt auf ihre Optimierer gewähren. Fragen des Rebalancings oder des Routings werden dann nicht mehr isoliert pro Flotte, sondern aggregiert als echtes Mobilitätsökosystem betrachtet und entschieden. Ja, das bedeutet weniger Umsatz(-fokussierung) und Kundenzugang für jeden einzelnen Betreiber, denn im Zweifel werden die paar freien Scooter nicht dorthin gebracht, wo sie maximalen Umsatz generieren können, sondern dahin, wo das System als Ganzes gerade unterbesetzt ist.

Durch die Koordinierung aller Flotten auf verkehrspolitische Ziele wie Verfügbarkeit und Abdeckung wird das System als Ganzes effizienter. Zur Wahrheit gehört dann auch, dass wir vermutlich mit insgesamt weniger Scootern, Rollern, Leihautos und so weiter auskommen werden. Dies erscheint erneut kontraintuitiv für den einzelnen Betreiber, ist aber im Sinne der Ressourcenschonung absolut sinnvoll für die Allgemeinheit.

Drei wichtige Gedanken zum Schluss: Erstens, ich zeichne hier eine Vision, die so wie sie hier beschrieben wird, als sachlogisch im Sinne des ‚Warum tut man es nicht einfach‘ verstanden werden kann. Die Praxis ist aber um Welten komplexer: Allein die technische Anpassung über digitale Schnittstellen von verschiedenen Anbietern ist sehr aufwendig, und da habe ich noch nicht von den umfangreichen Änderungen an Strukturen und Gesetzgebungen des öffentlichen Verkehrs gesprochen.

Zweitens, dieser Kommentar hat starke urbane Scheuklappen. Die Herausforderungen des ländlichen Verkehrs verdienen einen eigenen Kommentar, aber zum Glück gibt es auch hier spannende Ansätze!

Drittens wurde die Frage des privaten Pkw in der Stadt bewusst ausgeklammert. Ein hier skizziertes ganzheitliches Mobilitätssystem muss diesen jedoch zwingend mitdenken und steuern. Mittel und Wege – man schaue zum Beispiel nach New York, Paris oder Barcelona – gibt es genug.

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