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Standpunkte Das Gespenst Dunkelflaute

Standpunkt von Jochen Schwill, Hendrik Sämisch, Jan Aengenvoort, Next Kraftwerke GmbH mit Sitz in Köln
Standpunkt von Jochen Schwill, Hendrik Sämisch, Jan Aengenvoort, Next Kraftwerke GmbH mit Sitz in Köln

Die Dunkelflaute ist heute schon gut beherrschbar, schreiben die Autoren Schwill, Sämisch und Aengenvoort in ihrem Standpunkt. Was fehlt, ist der Mut, sich auf ein neues Energiesystem einzulassen. Denn niemand weiß, wie der Markt in 50 Jahren aussehen wird und welche Technologien sich durchsetzen werden.

von Jochen Schwill

veröffentlicht am 07.12.2017

aktualisiert am 14.11.2018

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Trotz aller Unkenrufe – die Energiewende schreitet voran. Seit 2003 ist der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in Deutschland jedes Jahr gestiegen, zuletzt auf 38 Prozent. Zudem fallen die Kosten für erneuerbare Energien in ungeahntem Ausmaß, während der Strom immer seltener ausfällt und der Sektor hunderttausende Menschen in Lohn und Brot hält. Konventionelle Kraftwerksbetreiber müssen ihre Rückzugsgefechte also zunehmend ohne Argumente führen.


Die großen ideologischen Schlachten sind mit dem Klimaabkommen von Paris und die großen volkswirtschaftlichen Schlachten mit der radikalen Kostendegression der Erneuerbaren geschlagen. Nun rückt zunehmend eine technokratische Frage in den Mittelpunkt der Diskussion: Wie schaffen wir es, die benötigten Gigawattstunden maximal billig bereit zu stellen, wenn Sonne und Wind mal keinen Strom produzieren? Und plötzlich taucht von Seiten der um ihre Pfründe fürchtenden Konventionellen wieder ein Gespenst auf, das uns Angst machen soll. Ja, genau, das Dunkelflautengespenst.


Zerlegen wir die Frage in ihre Einzelteile, kommt Klarheit in die Sache. Zum „Wie“ hat das Bundeswirtschaftsministerium eine klare Unterstützung des Energy-Only-Markts festgeschrieben: Welche Technologien zur Ergänzung von Windkraft und Photovoltaik herangezogen werden sollen, kann der Markt am kosteneffizientesten entscheiden. Die großen Verwirrungen in der noch jungen Diskussion verursacht hingegen das so unschuldige Wörtchen „mal“. Wann ist die Dunkelflaute eine Dunkelflaute?


Grob lassen sich drei Zeithorizonte unterscheiden, um sich der Schwankungen von Wind- und PV-Produktion und somit der Dunkelflaute zu nähern. Zum einen die kurze Frist bis zu 60 Minuten, in der die steilen Rampen der volatilen Erneuerbaren abgefangen werden müssen, um die Netzfrequenz stabil zu halten. Zum anderen die mittlere Frist von wenigen Stunden bis zu wenigen Tagen, in denen die berüchtigte Dunkelflaute zu einer hohen Residuallast führt, zu einem Bedarf an Strom also, der nicht durch die Erneuerbaren gedeckt werden kann. Und zum dritten eine lange Dunkelflaute mit extremen, nur alle paar Jahre entstehenden Wetterbedingungen, während derer bis zu zwei Wochen lang die Residuallast hoch ist. Die ersten beiden Fälle sind heute bereits technologisch und marktlich zu großen Teilen gelöst, der dritte heute noch nicht.


Als Virtuelles Kraftwerk und Stromhändler sehen wir die Schwankungen von Windkraft und Photovoltaik jeden Tag in unserem Portfolio. Ein Solarpark springt von elf Prozent Produktion gemessen an der installierten Leistung innerhalb von zehn Minuten hoch auf 74 Prozent. Ein Windpark springt von 80 Prozent Produktion innerhalb von fünf Minuten zurück auf 41 Prozent. Und so weiter. Und bevor Sie jetzt Angst kriegen: Wann ist das letzte Mal bei Ihnen zu Hause der Strom ausgefallen? Wahrscheinlich Jahre her, also lassen Sie sich nicht verrückt machen. Netzbetreiber und Marktakteure kontrollieren diese Herausforderung jeden Tag erfolgreich und zunehmend ohne die Hilfe konventioneller Kraftwerke. Denn die kurzfristige Flexibilität, die zum Ausbalancieren dieser starken Rampen notwendig ist, wird zunehmend über neue Anbieter am Regelenergiemarkt bereitgestellt – nicht zuletzt durch uns selbst.


Virtuelle Kraftwerke erschließen dank Digitalisierung neue Quellen an Flexibilität im Bioenergie- und Wasserkraftsektor, im KWK-Bereich, durch die Vernetzung von Notstromaggregaten und auch im Lastmanagement von gewerblichen und industriellen Stromverbrauchern. Im Schwarm vereint glätten diese Technologien zunehmend die Flanken der Windstrom- und Photovoltaikproduktion über die Bereitstellung von Sekundär- und Minutenreserve. Zahlreiche Großbatterieprojekte für die direkte Ausregelung von Netzfrequenzschwankungen werden schon bald Großkraftwerke obsolet werden lassen, wenn es um die Erbringung der Primärreserve geht.


Weder die „kleine“ noch die – seltene – „große“ Dunkelflaute stellen das System heute vor den Blackout. Hier ist die Rolle von konventionellen Kraftwerken noch durchaus bedeutend. Doch auch wenn diese nun zunehmend das Stromsystem verlassen, ist die Herausforderung der Dunkelflaute beherrschbar. Warum?


  • Die Verlängerung der bereits erzielten Erfolge auf den Regelenergiemärkten zur Beherrschung der „kleinen“ Dunkelflaute ist machbar bei einer konsequenten weiteren Flexibilisierung der bereits dort eingesetzten Technologien. Gerade in der Flexibilisierung der Erneuerbaren und dem Lastmanagement von Verbrauchern schlummern noch große Potentiale. Je mehr Spieler sich für einen immer längeren Zeitraum um Sonne und Wind herum verschieben können wie eine taktisch klug eingestellte Sportmannschaft, desto mehr Flexibilität fließt dem System ohne Investitionen in den Neubau von Kapazitäten zu.
  • Pumpspeicherkraftwerke durchleben heute aufgrund der Überkapazitäten an Strom- und Flexibilitätsmärkten eine schwere Krise, sind aber kurz- bis mittelfristig reaktivierbar.
  • Versorgungssicherheit wird noch viel zu häufig als deutsches Thema gesehen. Das ist es nicht. Es ist mindestens ein europäisches Thema. Bei einer konsequenten Europäisierung von Märkten und vor allem Netzen ergeben sich transnationale Ausgleichseffekte, die das Beherrschen der Dunkelflaute einfacher machen. In Deutschland weht kein Wind und es scheint die Sonne nicht? In Portugal scheint sie vielleicht schon. In Norwegen springen die Wasserkraftwerke an. Der Wind weht heftig in Schottland. Ein eng vermaschtes Stromnetz ist die vielleicht älteste, effizienteste und sinnvollste Flexibilitätsoption. Vielleicht nennen wir sie zukünftig „Power through Copper“, um sie wieder ein wenig attraktiver zu machen?
  • Die Batterietechnologie erlebt momentan Kostendegressionen, die an die PV-Branche erinnern. Schon bald werden Batterien, sowohl stationäre als auch mobile, massenhaft und günstig für das Stromnetz zur Verfügung stehen.
  • Mit einer mutigen Hinwendung zur Sektorkopplung werden weitere Infrastrukturen nutzbar, die heute nicht zur Überbrückung der Dunkelflaute herangezogen werden: im Gasnetz oder in Kavernen gespeichertes Windgas aus vorangegangenen Überschussperioden etwa. Oder das Lastmanagement von elektrischen Heizungen. Oder das intelligente Laden und Entladen von Batterien in E-Autos.


Um es klar zu sagen, die Beherrschung der Dunkelflaute wird nicht durch eine der aufgeführten Technologien erfolgen, sondern durch ein Zusammenspiel aller Optionen. Das Management diverser, kleinteiliger Optionen über Virtuelle Kraftwerke ist dank der Digitalisierung übrigens schon heute kein Problem mehr. Was vor allem fehlt, um diese Optionen im großen Stil zu ziehen, ist also nicht der Markt und nicht die Technologie. Was fehlt, ist der Mut sich darauf einzulassen, dass wir heute noch nicht wissen müssen, welche Technologien genau im Jahr 2050 in einem Stromsystem mit 100 Prozent erneuerbaren Energien welche Rolle zu welchem Zeitpunkt übernehmen werden.


Das wird sich auch in einem regulierten Markt schnell zeigen, denn dazu wird in einem Strommarkt, der überwiegend von Energieträgern mit Grenzkosten gleich oder nahe Null dominiert sein wird, eine „Merit Order der Flexibilitätsoptionen“ entstehen, die den Einsatz der günstigsten Optionen in den verschiedenen Netzsituationen gewährleistet. Was fehlt ist auch der Mut, Subventionen in die analoge Welt der fossilen Kraftwerke (Stichwort Sicherheitsbereitschaft von Braunkohlekraftwerken!) endlich zu unterlassen, konventionelle Überkapazitäten abzubauen und die neuen Technologien sich am Markt und in den Netzen bewähren zu lassen. Und den Mut, sich nicht von dem Gespenst der Dunkelflaute in die Arme des Klimawandels treiben zu lassen. Sondern in der wahrlich deutschen Ingenieurstradition die Aufgaben anzupacken und abzuhaken.

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