Viel ist davon die Rede, dass die Demokratie unter Druck ist, dass Populisten und Autokraten den Kräften der Mitte zusetzen. Schuld daran ist auch ein über Jahrzehnte kaum geregelter öffentlicher digitaler Raum, in dem eine entfesselte Ökonomie der Aufregung Emotionalisierung belohnt und Polarisierung begünstigt, wo sachliche Argumente und ein respektvolles Miteinander gefordert wären.
Die noch sehr frischen Erfahrungen aus einem Wahlkampf in den AfD-Hochburgen Brandenburgs zeigen: Die Verrohung der Sprache, die in den immer noch so genannten „sozialen Medien“ seit vielen Jahren eingeübt wird, schlägt zunehmend auf das Verhalten von einzelnen Bürgern in den öffentlichen Räumen der Marktplätze und Straße durch. Wer als Vertreter einer Partei der Mitte im Dialog mit Wählerinnen und Wählern nach wenigen Wortwechseln Todeswünsche entgegen geschleudert bekommt, spürt unmittelbar eine De-Zivilisierung der Öffentlichkeit, wie sie noch vor einigen Jahren undenkbar schien.
Blanker Hass statt überzeugender Argumente – in den sozialen Netzwerken seit langem Alltag, in den öffentlichen Räumen unserer Demokratie immer häufiger anzutreffen. Politiker am Wahlstand anzugreifen, ist nur eine Form davon. Die Erfahrungen, die Rettungskräfte und Polizisten zunehmend im öffentlichen Raum machen, sind Ausdruck derselben Verrohung.
Konzentrierte Meinungsmacht
Dort, wo die Enthemmung eingeübt wird, beziehen die Bürgerinnen und Bürger auch zunehmend ihre Informationen. Laut dem neuesten Digital News Report des Reuters Institute informieren sich seit diesem Jahr erstmals auch in Deutschland mehr als 50 Prozent der Bürger über Politik im „Netz“.
Das Internet ist auch hierzulande zur Informationsquelle Nr. 1 geworden. Es wird von wenigen weltweit operierenden Plattformunternehmen beherrscht, die darüber bestimmen, wer was sieht, hört und liest. Sie lenken damit maßgeblich die Informationsströme und üben dadurch gewaltige Meinungsmacht aus. Eine solche Konzentration von Meinungsmacht wäre in unserer Medienlandschaft nicht zulässig und würde schon im Ansatz unterbunden.
Nicht so im Netz, wo sich die Betreiber auf des „Plattformprivileg“ berufen und nach wie vor kaum Verantwortung für die Inhalte übernehmen, denen sie ihre gewaltigen Profite verdanken. Selbst wenn DSA, DMA und AI Act Wirkung entfalten werden, haben sie das grundsätzliche Problem der Verantwortung nicht gelöst.
KI als Chance
Nach der Phase der Regulierung ist es daher jetzt Zeit, dass Europa endlich eigene Kapazitäten und Infrastrukturen im Informationsraum aufbaut. Europa muss handeln, bevor die ökonomische Basis der Medienunternehmen komplett erodiert und sie, ebenso wie die Bürger, die nach Informationen suchen, den US-amerikanischen und chinesischen Plattformen vollständig ausgeliefert sind. Und das auch, weil durch dieselben KI-gestützten Technologien, die derzeit eingesetzt werden, die Demokratie auszuhöhlen, auch gewaltige neue Chancen für die Demokratie entstehen, gerade in Europa.
Beispiel Übersetzung: Eine von der Forschungsabteilung des Europäischen Parlaments STOA im vergangenen Jahr beauftragte und vom DFKI durchgeführte Studie hat belegt, dass eine zeitnahe automatisierte Übersetzung von Nachrichtensendungen in alle europäischen Sprachen möglich ist.
Die Studie zeigt, in welchen Bereichen investiert werden muss, um etwa alle lizensierten europäischen Nachrichtensendungen in alle europäischen Sprachen zu übersetzen und sie auf einer eigenen Plattform den Bürgern zugänglich zu machen. Mit einem Schlag würde damit die Medienvielfalt in allen Mitgliedsstaaten massiv erhöht. Nur indem für ganz Europa zugänglich gemacht wird, was in ganz Europa an Qualitätsinformationen produziert wird – keine neue Minute Material müsste dafür hergestellt werden.
Eine europäische Öffentlichkeit
Ganz nebenbei würde mit einer solchen Europaplattform erstmals in der Geschichte ein einheitlicher öffentlicher Raum in Europa entstehen, der es Populisten schwerer macht, in den von ihnen kontrollierten nationalen Medienblasen gegen „Brüssel“ zu hetzen, und gleichzeitig eben dort die Schecks für ihre „illiberalen Demokratien“ abzuholen. Stattdessen: Ein gemeinsamer Markt für 450 Millionen Bürger, endlich auch auf dem Sektor der Nachrichten und Informationen. Wenn das kein Konjunkturprogramm für die wirtschaftlich bedrohte freie Presse ist.
Im 300. Geburtsjahr von Immanuel Kant muss unser Motto daher sein: Sapere Aude, Europa! Habe den Mut, dich deines eigene Verstandes zu bedienen – und deine eigene Infrastruktur für die Information der Bürger zu errichten. Nur so kann der Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heute gelingen.
Christian Ehler ist seit 2004 Abgeordneter im Europäischen Parlament für die Europäische Volkspartei.
Matthias Pfeffer ist Founding Director beim Council for European Public Space.