Selbst in den besten Zeiten kann es eine Herausforderung sein, sich in den organisatorischen Strukturen des Sozialstaats zurechtzufinden, um sicherzustellen, dass die Bürger:innen die sozialen Dienste bekommen, die sie brauchen. Covid-19 hat die Bereitstellung von Dienstleistungen noch komplexer gemacht. Die Sozialämter haben auf die Herausforderungen reagiert und bemühen sich darum, Schritt zu halten. Dennoch hat die explosionsartige Zunahme der Nachfrage nach Sozialdienstleistungen systemische Schwachstellen offengelegt.
Es hat sich gezeigt, dass viele der alten Arbeitsweisen nicht nachhaltig sind und neu konzipiert werden müssen. Unterschiedliche Organisationen werden auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene verwaltet und finanziert. So kommt es, dass sich eine Familie beispielsweise bei einer Bundesbehörde für ein Einkommensunterstützungsprogramm anmelden, beim Bundesland bildungsbezogene Dienstleistungen beantragen und bei einer kommunalen Einrichtung Kinderbetreuungsdienste in Anspruch nehmen muss. Die Fortschritte bei der Online-Bereitstellung von Dienstleistungen dürfen nicht die am stärksten gefährdeten Gruppen ausgrenzen. Gerade für ältere Bürger:innen stellen ein begrenzter Internetzugang oder fehlende technologische Kenntnisse oft Hürden im Zugriff auf digitale Angebote dar. Hier gilt es, einfachere, möglichst barrierefreie Lösungen zu schaffen.
Soziales Ungleichgewicht nimmt zu und persönlicher Kontakt nimmt ab
Ein aktueller Bericht von Accenture mit dem Titel „Social Services: Lead with Impact“ zeigt, dass die öffentliche Verwaltung vor enormen Herausforderungen steht, wenn es darum geht, Menschen in der Krise zu unterstützen. Für den Bericht hat Accenture über 7.000 Personen in zehn Ländern befragt – darunter über 1.000 Personen aus Deutschland, die in den letzten zwei Jahren Sozialleistungen bezogen haben, sowie 600 Führungskräfte, die derzeit in den Bereichen Humandienstleistungen, Beschäftigung, öffentliche Renten und Kinderbetreuung tätig sind. Weniger als die Hälfte (45 Prozent) der Befragten aus Deutschland waren der Meinung, dass die Reaktion ihrer Sozialdienststellen auf die Covid-19-Pandemie stark gewesen sei, und ein Viertel (26 Prozent) gab an, dass es ihnen an Möglichkeiten fehle, persönlich, von Angesicht zu Angesicht mit Sozialdienstmitarbeiter:innen zu sprechen.
Fast die Hälfte (48 Prozent) der Befragten aus Deutschland führte an, während der Krise erhebliche neue Betreuungsaufgaben zu Hause übernommen zu haben, und rund 60 Prozent gaben an, darüber besorgt zu sein, die Pandemie verstärke die Ungleichheiten in ihrem Umfeld. Darüber hinaus gab fast ein Fünftel (18 Prozent) der Befragten aus Deutschland an, in Zukunft mehr soziale Dienste in Anspruch nehmen zu wollen.
An anderer Stelle zeichnet der Bericht ein optimistischeres Bild: Zum Beispiel glauben fast zwei Drittel (65 Prozent) der Befragten aus Deutschland, dass die Pandemie die Art und Weise, wie soziale Dienstleistungen in Zukunft erbracht werden, grundlegend verändern wird, und fast zwei Fünftel (39 Prozent) gaben an, die sozialen Dienstleistungen, die sie während der Pandemie erhalten haben, seien genau auf ihre Bedürfnisse und Umstände zugeschnitten gewesen.
Sozialdienste erkennen Veränderungsdruck an
Sozialdienstleister weltweit verspüren den Druck, den Betrieb während der Pandemie aufrecht zu erhalten. Weniger als die Hälfte (49 Prozent) aller Führungskräfte weltweit stuften ihre Organisation als sehr gut auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen vorbereitet ein, während es vor der Pandemie noch 56 Prozent waren.
Überraschenderweise berichteten Führungskräfte aus Deutschland von einem gestiegenen Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft der öffentlichen Verwaltung, Störungen zu bewältigen. Mehr als ein Drittel (34 Prozent) der deutschen Führungskräfte gab an, die Fähigkeit ihrer Organisation, mit Störungen umzugehen, habe durch die Pandemie sogar zugenommen – im Vergleich zu 27 Prozent vor der Pandemie. Dieses Ergebnis ist ein gutes Zeichen für die Zukunft, da die Sozialdienste gestärkt aus der Krise hervorgehen und mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben.
Eine fast ebenso große Herausforderung wie die eigentliche Erbringung der Dienstleistungen ist es sicherzustellen, dass die Menschen von ihnen zunächst Kenntnis haben. Es hilft wenig, die Dienstleistungen zu verbessern, wenn die Bewohner nicht wissen, über welche Möglichkeiten sie verfügen, oder wenn sie Schwierigkeiten haben, die Dienstleistungen zu nutzen. Fast ein Fünftel (19 Prozent) der Befragten aus Deutschland gab an, nicht genügend digitale Möglichkeiten zu haben, um während der Pandemie online auf soziale Dienste zuzugreifen. Lange Wartezeiten sind ein weiteres Problem, wobei mehr als ein Drittel (35 Prozent) die Wartezeit als größtes Hindernis für den Erhalt einer qualitativ hochwertigen Dienstleistung nannte.
Schlüsselstrategien für die positive Veränderung der sozialen Dienste
Unsere Untersuchung hat Schlüsselstrategien identifiziert, die es der öffentlichen Verwaltung ermöglichen, die durch die Pandemie verursachten Störungen zu bewältigen und die Art und Weise, wie soziale Dienstleistungen in Zukunft erbracht werden, zu verändern. Dazu gehören: die Schaffung neuer organisatorischer und personeller Prozesse, der Einsatz neuer digitaler Technologien und die verstärkte Zusammenarbeit der öffentlichen Verwaltung mit Bürger:innen, Gemeindegruppen und Ökosystempartnern bei der Entwicklung und Bereitstellung neuer und stärker personalisierter Dienstleistungen. Positiv ist, dass mehr als die Hälfte (56 Prozent) der deutschen Befragten bereit ist, mit Regierungsbehörden zusammenzuarbeiten, um die Entwicklung und Bereitstellung sozialer Dienstleistungen für die Zukunft mitzugestalten und zu verbessern.
Neben vielen anderen Auswirkungen hat die Pandemie die entscheidende Rolle der Sozialdienste bei der Unterstützung der am meisten gefährdeten Einzelpersonen und Familien in Deutschland unterstrichen. Die Krise hat auch die Notwendigkeit einer effektiveren, menschenzentrierten Erbringung dieser Dienstleistungen gezeigt. Und während Technologie eindeutig ein Teil der Lösung ist, ist es genauso wichtig, neue organisatorische Denk- und Arbeitsweisen zu übernehmen. Sozialdienstleister, die sich heute dazu verpflichten, beide Notwendigkeiten zu erfüllen, machen einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung.
Rainer Binder ist Managing Director bei Accenture und Leiter der globalen Sozialdienstleistungsbranche.