Werden Systeme auf der Basis sogenannter Künstlicher Intelligenz „die Welt verschlucken“ („eat the world“), indem sie alle Lebensbereiche verändern, von der Softwareentwicklung bis zur Altenpflege, wie selbsternannte Missionare der Technologie behauptet? Möglich, auch wenn es zumindest viel länger dauern wird, als die Marketingabteilungen der KI-Firmen uns glauben machen wollen. Wie auch immer: In der Zwischenzeit werden bestehende Tech-Giganten alles dafür tun, aufstrebende KI-Unternehmen zu schlucken, um potenzielle Konkurrenz auszuschalten und ihren Zugriff auf alle Aspekte unserer digitalisierten Welt zu verstärken. Microsoft, Google und Amazon haben sich in den vergangenen Monaten dabei überschlagen, einige der angesagtesten KI-Unternehmen der Welt unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Wenn wir sie nicht bald stoppen, werden wir Monopole einer ganz neuen Größenordnung erleben. Doch sie zu verhindern, könnte sich als noch härter erweisen als bisher, da die Unternehmen offenbar einige Lehren aus früheren Wettbewerbsverfahren gezogen haben.
Mit milliardenschweren „Partnerschaften“ zur Marktbeherrschung
Beispiel Microsoft: Der wertvollste Konzern der Welt mit einer Marktkapitalisierung von mehr als drei Billionen US-Dollar (das ist eine Drei gefolgt von zwölf Nullen) hat bisher nicht nur 12 Milliarden US-Dollar in Open AI investiert, den Hersteller von ChatGPT. Im März stellte er auch zwei der drei Gründer von Inflection AI ein, zusammen mit den meisten Mitarbeiter:innen des gehypten Start-ups. Doch in beiden Fällen kaufte Microsoft nicht einfach Aktien dieser Unternehmen, geschweige denn eine Mehrheitsbeteiligung. Stattdessen hat sich das Unternehmen eine Vielzahl kreativer Arrangements einfallen lassen, die es ihm erlauben zu behaupten, dass es sich weder um Fusionen noch um Übernahmen handelt, sondern lediglich um „Partnerschaften zwischen unabhängigen Unternehmen“, wie Microsoft seine 12-Milliarden-Dollar-Beziehung zu Open AI genannt hat.
Von dieser Taktik dürfen wir uns nicht täuschen lassen, ebenso wenig wie der Gesetzgeber und die Wettbewerbsbehörden. Monopole zu schmieden liegt im Trend, und er geht weit über Technologieunternehmen hinaus. Bleibt er ungebremst, bedroht er den Kern unserer Demokratien.
Nicht zuletzt deshalb, weil 2024 kein gewöhnliches Jahr ist. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament sind wir mit einer nie dagewesenen Konstellation von Krisen konfrontiert: In der Ukraine tobt Krieg, der Klimawandel zerstört die Natur, Technologie-Giganten destabilisieren unsere Demokratien, die Inflation bringt Menschen zunehmend in wirtschaftliche Not und treibt sie auf die Straße. Diese Krisen sind ein fruchtbarer Boden für Demagog:innen, die die grundlegenden Ideale der europäischen Demokratie infrage stellen.
Ein Manifest gegen die extreme Konzentration von Wirtschaftsmacht
Wir – eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen – haben eine andere Vision. Wir legen sie in unserem Manifest „Rebalancing Europe – A new economic agenda for tackling monopoly power“ („Ein neues Gleichgewicht für Europa – ein wirtschaftlicher Fahrplan gegen Monopolmacht“) dar. Wir Unterzeichner:innen teilen die Einschätzung, dass die europäische Demokratie geschützt und gestärkt werden kann, indem eine entscheidende Aufgabe angegangen wird, die bisher übersehen wurde: die extreme Konzentration von wirtschaftlicher Macht und Kontrolle zurückzudrehen, die fast jede Krise, mit der Europa heute konfrontiert ist, verursacht oder verschärft hat.
Zu lange hat die EU gezögert, während eine Handvoll mächtiger Konzerne unser Wirtschaftsleben in den Würgegriff genommen hat: unsere zentralen Kommunikations- und Handelstechnologien, lebenswichtige Güter und kritische Lieferketten. Hunderte von großen Fusionen blieben ungeprüft und wurden nicht untersagt. Das hat zu enormer wirtschaftlicher Konzentration geführt, die die Fähigkeit der EU erheblich geschwächt hat, für die Menschen in der Union zu sorgen und ihre Rechte und Freiheiten zu verteidigen. Viele kritische Branchen – Finanzen, Energie, Transport und Pharmazie – werden von einigen wenigen Giganten kontrolliert. Das schadet nicht nur Arbeitnehmer:innen und Verbraucher:innen in Europa, sondern auch kleinen und mittelgroßen Firmen und dem Unternehmergeist schlechthin.
Es brauchte neue Strukturen für EU-Kommission und -Parlament
Sowohl das Europäische Parlament als auch die Kommission haben diesen Missbrauch beim Thema digitaler Märkte ins Visier genommen, vor allem durch den wegweisenden Digital Markets Act (DMA). Doch er geht nicht weit genug. Es braucht einen ehrgeizigeren und stärker vernetzten Ansatz, um Monopolmacht wirksam zu bekämpfen. Wir müssen zurück zur ursprünglichen Vision, die der EU zugrunde lag: der Vision, in der die Macht gerecht verteilt ist und mächtige Konzerne Gemeinwohl und öffentliche Interessen nicht untergraben können.
Die nächste Europäische Kommission muss einen Plan dafür entwickeln, um diese Vision zu verwirklichen und Freiheit, Chancen und Wohlstand für alle wiederherzustellen, indem sie viel zu stark konzentrierte wirtschaftliche Macht beschränkt und neu verteilt. Mit unserem Manifest zeigen wir auf, wie Struktur und Befugnisse der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments aussehen müssten, um diese Ziele zu erreichen. Ob diese Änderungen dann auch verwirklicht werden können, hängt entscheidend davon ab, wie das EU-Parlament künftig zusammengesetzt sein wird. Im Juni haben wir die Wahl.
Ulrich Müller ist Mitgründer und Vorstand von Rebalance Now. Die Organisation tritt dafür ein, die Monopolisierung der Wirtschaft zurückzudrängen und die Macht großer Unternehmen zu beschränken.
Matthias Spielkamp ist Mitgründer und Geschäftsführer von Algorithmwatch. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz (KI) Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit stärken, statt sie zu schwächen.