2020 wurden 18 Gigawatt Solaranlagen-Leistung in Europa installiert, elf Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahlen sind Marker einer neuen Dynamik in der Solarbranche, die sich durch ganz Europa und insbesondere durch Deutschland zieht und mit einem geschärften klimapolitischen Bewusstsein der Gesellschaft einhergeht.
Damit eng verknüpft ist ein Kernproblem der europäischen Energiewende: Die Europäische Union ist fundamental abhängig von PV-Modulen aus Asien, insbesondere aus China. Im Jahr 2019 wurden zwar 24 Prozent in der EU installiert, vor Ort produziert wurden jedoch lediglich zwei Prozent der Module. Der Vergleich veranschaulicht, mit welchen Abhängigkeiten wir es beim Jahrhundertprojekt Energiewende und der damit einhergehenden Dekarbonisierung unserer Industrien zu tun haben.
Relevant und nicht nur rein ökonomischer Natur ist eine andere Entwicklung: China hat den Ausbau des Fertigungssektors für PV-Module und die entsprechende Kostendegressionen der Branche vorangetrieben, jedoch nicht immer fair und nachhaltig. Die Vorwürfe rund um den Einsatz von Zwangsarbeitern in der chinesischen Solarindustrie haben jüngst zu diplomatischen Konsequenzen geführt. In den USA wurde vor dem Hintergrund der Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang ein Importstopp für die davon betroffenen Vorprodukte verhängt. Implikationen einer paneuropäischen Solar-Strategie reichen also weit über die ökonomische Sphäre hinaus und betreffen auch humanitäre Aspekte.
Lehren aus der Vergangenheit
Wer unvoreingenommen auf die Gegenwart blickt, kommt nicht umhin festzustellen, dass die vor 20 Jahren florierende deutsche und europäische Solarindustrie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Mit dem Abwandern der Produktion gingen nicht nur Wertschöpfung und Jobs verloren, sondern auch die Transparenz in den Lieferketten. Infolge lässt sich heute sehr viel schwerer beurteilen, ob erforderliche Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden.
Zweifel sind angebracht: Eine Untersuchung der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois in Zusammenarbeit mit dem Argonne National Laboratory des US Department of Energy geht von einem doppelt so hohen CO2-Fußabdruck bei in China hergestellten Solarmodulen im Vergleich zu solchen aus Europa aus. Mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 wäre das schwer vereinbar.
Eine kritische Selbstbetrachtung kann hier nicht schaden. Es liegt in unserer Verantwortung, für eine faire und nachhaltige Produktion der so dringend benötigten erneuerbaren Energien zu sorgen. Nehmen wir die klimapolitischen Ziele ernst, führt im Umkehrschluss kein Weg daran vorbei, die solare Wertschöpfung wieder verstärkt regional anzusiedeln und diese in Übereinstimmung mit dem Zielkanon des Europäischen Green Deals konsequent und transparent an Nachhaltigkeits- und Sozialstandards auszurichten.
Aus technologischer Sicht ist der Zeitpunkt hierfür günstig. Denn die derzeit noch dominierende PERC-Technologie (passivated emitter rear contact) stößt in puncto Energieeffizienz zunehmend an ihre Grenzen. Alternativen stehen schon bereit, ihren Platz im Massenmarkt einzunehmen – mit europäischen Playern an vorderster Front.
Europäische Unternehmen und ihre Forschungs- und Entwicklungspartner haben sich in eine hervorragende Ausgangslage gebracht, um beim anstehenden technologischen Leistungssprung auch kommerziell die volle Ernte einzufahren. Besonders vielversprechend in dem Zusammenhang sind Heterojunction/SmartWire-Technologien (HJT) und ,,Tandemzellen”, die das Mineral Perowskit verwenden. Es wäre kaum zu verantworten, wenn sich Geschichte wiederholen und europäische Technologieführerschaft nicht in kommerziellen Erfolg und gesellschaftlichen Wohlstandsgewinn münden würde.
Jobmotor Solarindustrie
Um genau das zu verhindern, wurde Ende Februar mit Unterstützung von EU-Energiekommissarin Kadri Simson und EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton die „European Solar Initiative“ (ESI)unter Leitung von EIT InnoEnergy und Solar Power Europe ins Leben gerufen. Analog zur Europäischen Batterieallianz (EBA) strebt diese den rapiden Auf- und Ausbau der europäischen PV-Industrie entlang aller Wertschöpfungsstufen von der Rohstoffgewinnung über die Zellproduktion bis zum Recycling an.
Neben einem konzertierten Zusammenspiel von Industrie, Forschung und Politik erfordert dies nach ESI-Prognosen über die kommenden 30 Jahre Investitionen in einer Größenordnung von mindestens 400 Milliarden Euro. Gerade deshalb liegt ein Hauptaugenmerk der Initiative auf der Umsetzung industrieller Großprojekte mit Finanzierungsbedarfen im Milliardenbereich, denn für ein Klein-Klein fehlt angesichts der monumentalen Aufgabe schlichtweg die Zeit.
Der dafür notwendigen Kraftanstrengung stehen beachtliche Wachstumsperspektiven für den europäischen Binnen- und Arbeitsmarkt gegenüber. Einer vergleichsweise konservativen Prognose von EIT InnoEnergy und Solar Power Europe zufolge würden durch das „Heimholen“ in Europa zusätzlich rund 400.000 direkte und indirekte Arbeitsplätze bis 2050 entstehen. Noch optimistischer sieht es die Internationale Erneuerbaren-Agentur Irena, die im Falle einer ambitionierten Solarstrategie von knapp 630.000 Jobs ausgeht.
Ein großer Profiteur hiervon wäre Deutschland. Dies wäre auch insofern wünschenswert, als es den Arbeitsplatzabbau in emissionsintensiven Industriezweigen wie der Kohleindustrie sogar überkompensieren könnte. Wie dies vor Ort konkret ausschauen kann, zeigt sich in der Gemeinde Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt. Dort hat Meyer Burger im Mai offiziell ein neues Werk zur Herstellung von Hochleistungssolarzellen eröffnet. Schon in seiner initialen Ausbaustufe von 400 Megawatt sind dort bereits 350 Mitarbeiter beschäftigt. Bis 2026 soll die Kapazität auf fünf Gigawatt mehr als verzehnfacht werden.
Deutschland sollte eine Vorreiterrolle in Europa spielen
Übernimmt Deutschland eine Vorreiterrolle in Europa, könnte das die Blaupause für die Stärkung der europäischen Solarindustrie liefern und zugleich ein positives Signal an die Mitgliedstaaten senden. Das erforderliche Know-how dafür ist vorhanden. Was bislang fehlt, ist ein starker Handlungsimpuls, gepaart mit dem Anspruch einer ökologischen Vorbildfunktion. Daher gilt es, zügig konkrete Maßnahmenpakete zu definieren, die für die Industrie einen verlässlichen Rahmen schaffen und die Bürger mitnehmen und einbinden. Ein solcher Baustein wäre ein deutsches Zehn-Millionen-Dächer-Programm, welches zugleich ein verbindliches Signal an die Hersteller sendet und auf gesamteuropäischer Ebene zur Nachahmung animiert.
Wohlgemerkt: All dies ist keinesfalls als Aufruf zu europäischem Protektionismus im Solarbereich zu verstehen. Der Solarmarkt ist groß genug für alle. Aktuelle Simulationen gehen davon aus, dass PV innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte mit – je nach Szenario – mehr als 3000 oder sogar mehr als 4000 Gigawatt installierter Kapazität zum global wichtigsten Energieträger avanciert. Insofern geht es darum, in einem riesigen globalen Wachstumsmarkt Wertschöpfung regional auszutarieren. In einem für die globale Energiewende und Dekarbonisierung so essentiellen Bereich ist das wirtschaftlich, politisch und ökologisch nicht nur legitim, sondern ein Gebot der Vernunft.
Die Zukunft bleibt ein offenes Verfahren. Doch so viel steht fest: Die Chancen, die mit dem Wiederaufbau einer resilienten und nachhaltigen solaren Wertschöpfung in Europa einhergehen, stellen die Folgen eines „Weiter so“ klar in den Schatten. Eine starke europäische Solarindustrie, welche die leistungsfähigsten und nachhaltigsten Module weltweit hervorbringt, kann zum Eckpfeiler eines auf „grünes Wachstum“ ausgerichteten Wirtschaftsraumes werden – mit Deutschland als Taktgeber. Nun ist es höchste Zeit, dafür die politischen Weichenstellungen vorzunehmen.
Christian Müller ist CEO von InnoEnergy Deutschland, das zum Europäischen Institut für Innovation und Technologie (EIT) gehört und nachhaltige Innovation unterstützt. Gunter Erfurt ist CEO des in der Schweiz börsennotierten Solar- und Maschinenbau-Konzerns Meyer Burger.