„Energieunabhängigkeit der baltischen Staaten“ stand als Überschrift über einer rückwärtslaufenden Uhr auf den Internet-Seiten aller drei baltischen Stromübertragungsnetzbetreiber. Die Uhr maß die Zeit bis zur Abschaltung der Stromverbindung mit Russland und Weißrussland, auch mit Kaliningrad, und den darauffolgenden Beitritt zum kontinentaleuropäischen Stromverbund. Seit dem vergangenen Wochenende ist es so weit: Die baltischen Staaten haben ihre noch aus der Sowjetzeit stammende Stromnetzverbindung mit Russland und Belarus gelöst, und sind über das polnische Netz mit der EU synchronisiert.
Dem gingen viele Jahre intensiver Vorbereitung voraus. Die hohen Gesamtkosten für Netzverstärkung und Umbau von rund 1,6 Milliarden Euro hat zu zwei Dritteln die EU getragen. Technisch und regulativ ist die Synchronisierung eine Meisterleistung. Zugleich ist sie ein sehr symbolischer Schritt: Nach ihrem EU-Beitritt 2004 vollenden die drei baltischen Staaten ihren energiepolitischen Integrationsprozess. Das ist maßgeblich auch ein Verdienst der EU-Kommission, der Übertragungsnetzbetreiber PSE, Litgrid, AST und Elering, des europäischen Stromnetzbetreiberverbunds Entso-E, des polnischen Staates und des polnischen Instituts Energetyki.
Dabei liefen die Vorbereitungen schon 2007 an, mit dem Baltic Energy Market Interconnection Plan (BEMIP), der wesentlich zur Integration des Baltikums mit der Region und der EU beigetragen und die Synchronisierung wesentlich vorbereitet hat. 2018 wurde der Zeitpunkt 2025 festgelegt. Dieser wurde aber mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in Frage gestellt: Ist das zu spät? Würde Moskau hier, wie so oft an anderer Stelle, seine energiepolitische Macht missbrauchen? Vergessen wir nicht, dass der Angriff auf die Ukraine zeitscharf passierte, als diese das russische Stromnetz verlassen hatte.
Deshalb bereitete Entso-E mit seinen Mitgliedern einen Plan vor, demzufolge eine Notsynchronisierung der baltischen Staaten jederzeit möglich war. Da eine unmittelbare Bedrohung ausblieb, hielt man aber am ursprünglichen Plan fest, nutzte die Zeit für weitere Vorbereitungen und kündigte das Abkommen mit Russland und Belarus fristgemäß im August 2024.
Riskant: Nur eine einzige Synchronverbindung mit Polen
Die Synchronisierung am Sonntag erfolgte über eine doppelte Wechselstromleitung von Litauen nach Polen. Die bedeutende polnische Rolle nicht nur hier, sondern auch schon für die Ukraine ist besonders zu betonen. Zudem hatte Warschau die Strombrücke nach Kyjiw durch die erneute Inbetriebnahme der alten Leitung Rszeszow-Chmelnicki wesentlich verbessert – und das in einer Rekordzeit von einem Jahr.
Die Experten sind sich dabei einig, dass eine Synchronverbindung über nur eine Kuppelstelle technisch riskant ist: Was, wenn Litpol Link aus welchem Grund auch immer ausfällt? Die baltischen Staaten wären auf sich allein gestellt. Die Antwort auf dieses Risiko ist die zweite Wechselstromverbindung Harmony Link, die bis 2030 als unterirdisches Kabel parallel zur Autobahn Via Baltica gebaut werden soll. Außerdem haben die baltischen Staaten mit umfangreichen Batteriekapazitäten und sogenannten Synchron-Kondensatoren vorgesorgt; so ist Netzstabilität auch in Krisenzeiten gewährleistet.
Mit hybriden Angriffen rechnen
Auch auf Kaliningrad soll hier eingegangen werden: Mit der Synchronisierung wird es zur Strominsel, denn die Leitung nach Litauen besteht nicht länger. Die Exklave mit einer Million Einwohnern ist Teil eines Landes, mit dem es keine gemeinsame Grenze hat: Russland. Besteht ein Risiko für die Stromversorgung des Gebiets? Die Antwort lautet: Nein, denn auch dort hat man sich seit vielen Jahren vorbereitet. Sogenannte Inseltests, die das Funktionieren in Abkoppelung und Isolation prüfen, fanden seit 2019 Jahr um Jahr erfolgreich statt. Kraftwerke wurden aus- und Netze umgebaut. Berichte in russischsprachigen Medien in Kaliningrad lassen den Schluss zu, dass dort derzeit überwiegend kein Anlass zur Sorge gesehen wird.
Am vergangenen Wochenende beschwichtigte der Gouverneur Kaliningrads, dass alles unter Kontrolle sei. Allerdings warnte gleichzeitig ein Energieversorger vor großen Problemen. Geschehen ist nichts – auch wenn ein fingierter Blackout durchaus als mögliches Szenario betrachtet wurde. Dadurch hätte Russland die baltischen Staaten beschuldigen und unter Druck setzen können.
Das Risiko ist dennoch nicht abgewendet. Auch in Zukunft gilt es, sich auf mögliche Provokationen vorzubereiten, auf hybride Angriffe. Und es gilt, die so wichtige Litpol-Link-Verbindung als kritische Infrastruktur unter besonderen Schutz zu stellen, wie es derzeit auch geschieht.
Vorsicht vor irreführenden Behauptungen
Erinnerlich gab es die mutmaßlich von Russland ausgehenden Sabotage-Aktionen gegen Untersee-Stromkabel wie Estlink 2, die durchaus im Kontext der bevorstehenden Synchronisierung zu betrachten sind. Drei Gleichstromkabel führen von Finnland und Schweden durch die Ostsee mit einer Gesamtkapazität von 1,7 Gigawatt, was 36 Prozent des höchsten baltischen Bedarfs entspricht. Der Verlust von Estlink 2 mit einer Kapazität von 650 Megawatt hat zur Verteuerung des Stroms im Baltikum geführt.
In den Medien insbesondere Lettlands wird behauptet, dass die Synchronisierung zu einem Preisanstieg des Stroms führen würde. Fakt ist jedoch, dass sich der Strompreis sehr geringfügig erhöhen wird, etwa um 40 Euro-Cent pro Haushalt und pro Monat, oder um 3 Prozent. Dies ist bedingt durch die sogenannten Systemdienstleistungen, die nicht länger Moskau liefert, sondern die von den baltischen und polnischen Netzbetreibern bereitgestellt werden müssen.
Die Synchronisierung am vergangenen Wochenende fand ohne Zwischenfälle statt. Es sei hier hervorgehoben, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam mit den Staatschefs Polens, Litauens, Lettlands und Estlands am 9. Februar in Vilnius diesen wichtigen Schritt feierte und damit die Präsenz der EU eindrucksvoll veranschaulichte.
EU und Nato müssen Balten zur Seite stehen
Für die Zukunft gilt, dass sowohl die EU als auch die Nato ihren baltischen Partnern und Mitgliedern klar in Wort und Tat zur Seite stehen müssen. Dort wird die Bedrohung durch Russland als sehr real empfunden – was sich nicht zuletzt in den sehr hohen Verteidigungshaushalten von fast 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts widerspiegelt, ähnlich wie in Polen.
Zusätzlich sollte die EU gemeinsam mit Polen und Litauen prüfen, ob der zweite Strom-Interkonnektor nicht doch deutlich früher als 2030 gebaut werden kann. Dies würde die Energiesicherheit des Baltikums entscheidend verbessern. Längerfristig ist auch der Bau einer Unterwasser-Wechselstromverbindung zwischen Estland und Finnland sinnvoll: Sie wäre technisch über die 67 Kilometer Entfernung zwischen den beiden Küsten machbar; kurzfristig aber ist sie in Anbetracht der Spannungslage in der Ostsee und der hybriden Angriffe keine gute Idee.
Insbesondere Deutschland und Polen müssen besser zusammenwirken bei der regionalen Strommarkt-Gestaltung, die ja nun das Baltikum, aber auch die Ukraine umfasst. Derzeit sind die Stromflüsse über die deutsch-polnische Grenze stark reduziert. Das kann nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der EU sein, die mit Recht mehr Markt und Versorgungssicherheit wünschen. Wir brauchen hier eine Strommarktbrücke, keine Barriere und empfehlen der nächsten Bundesregierung, ein neues deutsch-polnisches Strommarktkapitel zu eröffnen, im Schulterschluss mit der Republik Polen.
Grenzüberschreitende Stromverbindungen spiegeln die Zusammengehörigkeit und den Zusammenhalt verbündeter Staaten wider. Genau deshalb ist die Stromnetz-Synchronisierung der baltischen Region, die ein permanentes, enges Zusammenwirken der Länder bedeutet, von solch großer Wichtigkeit.
Susanne Nies ist Leiterin des Projekts „Green Deal Ukraina“ am Helmholtz-Zentrum Berlin. Maciej Jakubik ist Europa-Programmkoordinator bei Forum Energii in Warschau.