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Energie & Klima

Standpunkte Ein Kernnetz ohne Verteilnetze wäre wie eine Autobahn ohne Abfahrten

Timm Kehler, Vorstand und Geschäftsführer von Zukunft Gas
Timm Kehler, Vorstand und Geschäftsführer von Zukunft Gas Foto: Zukunft Gas

Die Vorschläge der Bundesregierung zu einem Rückbau der Gasverteilnetze führen in Timm Kehlers Augen zu einem beunruhigenden Szenario. Der Vorstand des Branchenverbands Zukunft Gas befürchtet, dass wichtige Kraftwerksstandorte ihre Verbindung zu künftigen H2-Kernnetz verlieren. Er warnt vor drastischen Maßnahmen und plädiert für Umbau statt Abbau.

von Timm Kehler

veröffentlicht am 23.04.2024

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Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel seiner Energieversorgung. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 fordert einen schrittweisen Abschied von fossilen Brennstoffen und den gleichzeitigen Ausbau erneuerbarer Energieträger. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Transformation der Gasinfrastruktur dar.

Der Bundestag hat mit seinen jüngsten Entscheidungen die Randbedingungen für ein Kernnetz im Rahmen der Wasserstoffstrategie verabschiedet und damit unterstrichen, dass der Ausbau der Infrastruktur und die Umstellung bestehender Netze nicht nur möglich, sondern auch politisch gewollt ist. Parallel dazu hat allerdings das Bundeswirtschaftsministerium mit seinem Green Paper zu den Gasverteilnetzen für viel Unsicherheit gesorgt.

Dabei zeigt der Blick auf die Fakten, dass der Bundestag richtige und wichtige Entscheidungen getroffen hat: Derzeit basiert die Energieversorgung zu großen Teilen auf Gas. Nach Mineral- und Heizöl hat Gas mit 24,5 Prozent den zweitgrößten Anteil am Primärenergieverbrauch in Deutschland. Die Gasversorgung wiederum beruht aktuell überwiegend auf Erdgas.

Die deutsche Gasnetzinfrastruktur ist ein komplexes System, das über Jahrzehnte gewachsen ist. Mit knapp 550.000 Kilometern Leitungslänge verfügt Deutschland über eines der dichtesten Gasnetze weltweit. Diese Infrastruktur bietet nicht nur eine hohe Versorgungssicherheit, sondern auch die Flexibilität, unterschiedliche gasförmige Energieträger zu transportieren.

Sie bietet damit das Potenzial, zu einem zentralen Pfeiler der klimaneutralen Energieversorgung zu werden. Durch die Umrüstung auf die Verteilung von Wasserstoff und Biomethan kann das bestehende Netz einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten.

Umrüstung auf Wasserstoff und Biomethan

Mit den geplanten H2-ready Terminals und dem Aufbau internationaler Wasserstoff-Pipelines wie H2Med oder SouthH2 wird Deutschland künftig direkte Verbindungen zu Regionen haben, in denen die Produktion von Wasserstoff besonders kosteneffizient ist. Diese Entwicklungen zeigen, wie viel auch im internationalen Umfeld auf der Infrastrukturseite passiert.

Die Herausforderung besteht nun darin, sicherzustellen, dass der Wasserstoff tatsächlich in die industrielle Nutzung übergeht. Und dafür reicht das Fernleitungsnetz nicht. Hierfür sind die Verteilnetze von zentraler Bedeutung, schließlich versorgen sie rund 1,8 Millionen industrielle und gewerbliche Betriebe in Deutschland.

Das kürzlich veröffentlichte Green Paper des Bundeswirtschaftsministeriums widmet sich vordergründig der Transformation der Gasverteilnetze. Tatsächlich konzentriert es sich aber nahezu ausschließlich auf die Stilllegung bestehender Netze und vernachlässigt dabei ihre zentrale Rolle bei der Verteilung neuer, klimaneutraler Gase wie Wasserstoff oder Biomethan. Diese einseitige Fokussierung hat erhebliche Verunsicherung bei industriellen und gewerblichen Gaskunden ausgelöst.

Die kritische Frage steht im Raum, ob zukünftig Betriebe und Anlagen weiterhin über das Gasnetz versorgt werden können. Richtig ist, dass Infrastrukturen einem notwendigen Wandel unterliegen und der Rückbau in bestimmten Kontexten eine Option darstellen kann. Wie auch bei Straßen, Stromnetzen, Schienen und Wasserstraßen gibt es sowohl Stilllegungen als auch Neubauten. Jedoch greift der ausschließliche Fokus des Green Papers auf die Stilllegung zu kurz.

Gasinfrastruktur im Transformationsprozess

Gleichzeitig wird in der aktuellen Diskussion sehr stark der rasche Umbau unserer Energieversorgung hin zu erneuerbaren Quellen betont. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der Aufbau und die Sicherstellung einer leistungsfähigen Infrastruktur für erneuerbare Energien – insbesondere im Bereich der Wärmeversorgung – noch große Herausforderungen bergen. Insbesondere wird in der Diskussion beständig der Netzausbaubedarf als wesentlicher Treiber zukünftiger Energiepreise ausgeblendet. Schätzungen gehen hier von Ausgaben in Höhe von mehr als 700 Milliarden Euro aus.

Zum Vergleich: Die Investitionskosten im Gas-Verteilnetz summieren sich bis 2045 für eine vollständige Umrüstung auf Wasserstoff auf rund 47 Milliarden Euro. Aber auch bei überwiegend erneuerbarer Stromerzeugung werden die Gasverteilnetze schon für die Stromversorgung unverzichtbar bleiben. Denn mehr als 80 Prozent der Standorte von Gaskraftwerken, die zukünftig als Wasserstoffkraftwerke Dunkelflauten überbrücken sollen, sind über das Verteilnetz angeschlossen und befinden sich in einer Entfernung von mehr als einem Kilometer zum heutigen Fernleitungsnetz.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Notwendigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit der bestehenden Gasinfrastruktur. Es wäre unverantwortlich, eine funktionierende und zukunftsfähige Infrastruktur voreilig stillzulegen, solange die alternativen Versorgungssysteme – insbesondere ein flächendeckendes, leistungsfähiges Stromnetz für erneuerbare Energien – noch im Aufbau sind. Die Gasnetze bieten die Chance, flexibel und robust den Übergang in die klimaneutrale Zukunft zu gestalten, ohne die Versorgungssicherheit zu riskieren.

Mix aus Bewahrung und Innovation

Um diese wertvolle Infrastruktur erfolgreich in das Zeitalter der Klimaneutralität zu überführen, bedarf es einer klaren Strategie und einer konsequenten Umsetzung. Die Umrüstung der Netze für die Verteilung von Wasserstoff und die Einspeisung von Biomethan sind dabei zentrale Maßnahmen. Gleichzeitig müssen die regulatorischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, um Investitionen in diese Transformation zu fördern und zu beschleunigen.

Sicherlich ist dabei auch notwendig, Rahmenbedingungen für die Stilllegung von Verteilnetzen zu schaffen und bestehende Regelungslücken zu schließen, jedoch fehlen wichtige weitere Aspekte, wie beispielsweise die Umwidmung der Netze für den Transport neuer Gase. Die Entwicklung des Kernnetzes bei gleichzeitiger Stilllegung des Verteilnetzes wäre daher wie der Bau von Autobahnen ohne Abfahrten – eine unvollständige und kurzsichtige Planung.

Nur durch einen ausgewogenen Mix aus Bewahrung und Innovation können wir den Weg zu einer nachhaltigen, sicheren und gerechten Energiezukunft ebnen. Es gilt nun, die Weichen richtigzustellen und die Gasinfrastruktur als unverzichtbare Komponente im Energiemix der Zukunft zu begreifen und entsprechend zu handeln.

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