Vor ein paar Wochen sorgte sich das „Handelsblatt“ um die Zukunft der Klimapolitik in Deutschland und der EU: „Wo einst die große Lust am Klimaschutz war, dominiert nun eher Klimafrust und: „Das ambitionierte Ziel, in Deutschland bis 2045 klimaneutral zu sein, wird immer schwieriger zu erreichen. Dabei wird die Erderwärmung unser Leben massiv verändern.“
In der Tat hat Klimaschutz derzeit so gar keine Konjunktur in der öffentlichen Debatte. „Fridays for Future“ sind aus dem öffentlichen Bild verschwunden, der „Green Deal“ der EU-Kommissionspräsidentin hat an Glanz eingebüßt, CDU und CSU haben eine medial erfolgreiche Kampagne für eine Rücknahme des „Verbrennerverbots“ ab 2035 (das es so gar nicht gibt) geführt und der Rechtsruck bei den Europawahlen am 9. Juni wie auch die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen lösen Sorgen auch um die künftige Klimaschutzpolitik aus. Ist damit alles schon verloren?
Der jüngst um sich greifende Pessimismus verkennt, dass wir in Europa eine stabile Klimaschutz-Architektur auf einem sehr soliden Fundament geschaffen haben, die die 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie Island, Lichtenstein und Norwegen umfasst. Darauf können wir bauen, müssen aber auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
Es ist dringend notwendig, die Kommunikation zum Klimaschutz gründlich zu verändern. Weg von Hetzkampagnen und hin zum Erklären, Vermitteln, Werben und dazu, als Vorbild einzutreten. Das betrifft die mediale wie die politische Kommunikation. Denn wir tun uns in Deutschland keinen Gefallen, einen Kulturkampf über einzelne Maßnahmen anzuzetteln.
Das ist gemeinsame Aufgabe aller Parteien und der Medien. Denn es geht nicht um Parteipolitik, sondern um die Umsetzung klarer EU-Gesetzgebung, an der alle Mitgliedsstaaten mitgewirkt haben. Es geht darum, das Erreichte zu erklären, zu schützen und weiterzuentwickeln.
Solidarische Lastenteilung
Die Europäische Klimaschutz-Architektur fußt vornehmlich auf dem Europäischen Emissionshandelssystem (EU-ETS, seit 2005 eingeführt) sowie der Europäischen Klimaschutzverordnung. Der EU-ETS, der die Sektoren Energiewirtschaft und energieintensive Industrie sowie den europäischen Luft- und Seeverkehr umfasst, senkt die europaweit versteigerten Emissionszertifikate jährlich um einen konstanten Betrag. 2038 ist Schluss, danach werden für diese Bereiche keine Emissionsberechtigungen mehr versteigert!
Spannend und in der öffentlichen Debatte bislang wenig reflektiert ist die Europäische Klimaschutzverordnung, auch „Effort Sharing Regulation“ (ESR) genannt. Sie erfasst alle vom EU-ETS nicht erfassten Treibhausgas-Emissionen (vereinfacht: CO2 Emissionen), insbesondere den gesamten Verkehr und die Gebäudeheizungen.
Die aktuelle Regelung ist 2023 in Europa eingeführt worden, nachdem sie seit 2021 in der EU diskutiert und noch von der alten Bundesregierung auf europäischer Ebene begleitet wurde. Je nach wirtschaftlicher Stärke der EU-Mitgliedsländer müssen diese ihre CO2-Emissionen in den ESR-Sektoren bis 2030, verglichen mit dem Jahr 2005, mindern – von 10 Prozent (Bulgarien) bis 50 Prozent (beispielsweise Dänemark, Deutschland, Luxemburg). Die Emissionsminderung muss von jedem Mitgliedsland in jährlich gleichen, individuell bereits festgelegten Mengen erbracht werden.
Wer seine Emissionsminderungs-Verpflichtungen untererfüllt, muss Emissionsberechtigungen von anderen, übererfüllenden Mitgliedsländern zukaufen, zu frei ausgehandelten Preisen. Das ist das Prinzip der solidarischen Lastenteilung in der europäischen Klimaschutzarchitektur, das bereits 2013 etabliert wurde.
Weil befürchtet wurde, dass sich die meisten EU-Länder mit der jetzigen Klimaschutzverordnung schwer tun, wurde ebenfalls im Jahr 2023 ein zweites Emissionshandelssystem (EU-ETS 2) beschlossen, das ab dem Jahr 2027 eingeführt wird. Es umfasst nicht den gesamten ESR-Bereich, aber mit Straßenverkehr, Gebäudeheizung und „anderen Industriesektoren“ die relevantesten Emittenten. Auch im EU-ETS 2 werden CO2-Emissionsberechtigungen in Form von Zertifikaten europaweit versteigert, damit wird ebenfalls eine „harte“ Mengensteuerung der künftig zulässigen CO2-Emissionen eingeführt.
Die Zielsetzungen stimmen
Vorausgesetzt, die EU-Mitgliedstaaten gehen den Weg konsequent weiter, ist die Perspektive ermutigend. Die Konsequenzen der gesetzlichen Regelungen, die EU-Kommission, Europa-Parlament und EU-Mitgliedsstaaten zum Klimaschutz geschaffen haben, sind glasklar: Die Brenn- und Treibstoffe nutzenden Sektoren (vor allem Straßenverkehr und Gebäudeheizung) müssen bis 2043 klimaneutral sein. Stromerzeugung, energieintensive Industrieprozesse wie etwa Stahl, Zement und die chemische Industrie sowie der europäische Luft- und Seeverkehr müssen sogar schon bis 2038 klimaneutral umgestellt sein. Es gibt dann in all diesen Verbrauchsbereichen keinen Platz mehr für fossile Energieträger.
Eine große Herausforderung aber besteht in der „strukturellen Untererfüllung und Überfüllung“ der EU-Klimaschutzverordnung in Verbindung mit dem EU-ETS 2: In jedem EU-Mitgliedsland können grundsätzlich so viele Zertifikate erworben werden, wie verfügbar und finanzierbar. Für den EU-ETS 2 jedoch gilt: Die Klimaschutzverordnung als der weiter gehende Rechtsrahmen fußt auf individuellen Reduktionsverpflichtungen je Mitgliedsstaat.
Mitgliedsländer mit geringem Pro-Kopf-Einkommen (und daher geringeren ESR-Verpflichtungen) werden tendenziell ihre Verpflichtungen wegen der strengen Mengensteuerung im ETS 2 übererfüllen (eine hohe CO2-Minderung im ETS 2 -Bereich trifft auf relativ geringere ESR-Verpflichtungen). Umgekehrt werden Mitgliedsländer mit hohem Pro-Kopf-Einkommen (und hohen ESR-Verpflichtungen) ihre Verpflichtungen tendenziell untererfüllen (bei ebenfalls hoher CO2-Minderung im ETS 2 Bereich, aber noch höheren ESR-Verpflichtungen).
„Untererfüllung“ der starken Mitgliedsländer beenden
Die „strukturelle Untererfüllung“ schätzt das Öko-Institut für Deutschland auf 45 Millionen CO2-Zertifikate allein für das Jahr 2030, wenn der ETS 2 in allen Mitgliedsländern zu anteilig gleichen Emissionsminderungen führt. Wenn einkommensschwächere Mitgliedsländer mehr sparen (weil den Haushalten das Geld für CO2-Zertifikate fehlt) und einkommensstärkere Mitgliedsländer weniger (weil die Haushalte sich teure CO2-Zertifikate eher leisten können), dann beziffert das Öko-Institut in einem konkreten Szenario die Untererfüllung auf 70 Millionen CO2-Zertifikate allein im Jahr 2030. Das heißt: Bei Ausgleichskosten von beispielsweise 100 Euro je Tonne CO2 würde der Bundeshaushalt, den beiden Szenarien folgend, allein im Jahr 2030 zwischen 4,5 und 7 Milliarden Euro bereitstellen müssen – Geld, das für andere Zwecke fehlen wird.
„Untererfüllung“ bei wirtschaftsstarken Mitgliedsländern ist aber kein unabänderliches Schicksal. Sie wird freilich verstärkt, wenn Bürgerschaft und Unternehmen sich dem technologischen Wandel entziehen und lieber auf die „altbewährte“ fossile Technologie setzen. Sie wird umgekehrt abgemildert oder kann sogar auf Null reduziert werden, wenn Bürgerschaft und Unternehmen alles daran setzen, auf neue, klimaschonende Technologien umzusteigen (trotz noch nicht perfekter Ladeinfrastruktur, gestrichener Fördergelder oder anderer Misslichkeiten).
Jede Gas- oder Ölheizung, die heute statt einer Wärmepumpe oder einer anderen klimaschonenden Technologie eingebaut wird, führt zu CO22-Emissionen, die neben dem individuell zu tragenden CO2-Preis zusätzlich im Rahmen der EU-Klimaschutzverordnung ausgeglichen werden müssen. Das gleiche gilt für den Kauf eines Autos mit Benzin- oder Dieselmotor statt eines batterieelektrischen PKW.
Sozialen Sprengstoff entschärfen
Gelegentlich wird angeführt, dass Klimaschutz am besten ausschließlich mit dem Emissionshandel organisiert werden sollte. Für Brenn- und Treibstoffe führt dies jedoch dazu, dass insbesondere einkommensstärkere Haushalte sich dem erforderlichen technologischen Wandel entziehen können, weil sie es sich finanziell leisten können. Einkommensschwache Haushalte können sich weder neue Technologien leisten, die anfangs noch teurer sind, noch können sie steigende CO2-Preise (Preissteigerung aufgrund der kontinuierlichen Mengenverknappung) tragen. Darin steckt sozialer Sprengstoff.
Dringend nötig sind ausreichend ambitionierte europäische Klimaschutzinstrumente, die die EU-Klimaschutzverordnung und den darin eingebetteten ETS 2 unterstützen, (zum Beispiel regulatorische Anforderungen an CO22-Emissionen im Gebäudebereich oder bei Kraftfahrzeugen wie etwa CO2-Flottengrenzwerte). Nötig sind aber auch ausreichende eigene Anstrengungen der EU-Mitgliedsländer, den Klimaschutz zu befördern, zum Beispiel nationale, regionale oder kommunale Förderprogramme, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, der Ladeinfrastruktur, Unterstützung von Fuß- und Radverkehr, Unterstützung der Energiewende durch einfachere Genehmigungsverfahren sowie geeignete Marketingmaßnahmen.
Denn nur dann werden die Ziele der EU-Klimaschutzverordnung ohne gesellschaftliche Verwerfungen und ohne überbordende Ausgleichszahlungen erreicht. Dann werden auch die Vorteile der europäischen Klimaschutzarchitektur in der öffentlichen Kommunikation besser vermittelbar und sie wird weniger angreifbar für Hetzkampagnen.
Helmfried Meinel war von 2011 bis 2021 Ministerialdirektor und Amtschef im Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft von Baden-Württemberg. Heute ist er selbstständiger Berater im Bereich Energie, Klimaschutz und Ressourceneffizienz sowie Vorstandsmitglied beim Öko-Institut.