Standpunkte Das E-Auto als „Frauenauto“ – was für ein Irrweg

Im Jahr 1900 war nahezu jedes zweite Fahrzeug in den USA ein E-Auto. Wegen seines Komforts wurde es als „Frauenauto“ abgestempelt und verdrängt. Hätten Frauen in den vergangenen 100 Jahren eine prominentere Rolle in der Automobilindustrie gespielt, wäre das wohl anders gelaufen – zum Wohl der Umwelt.
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Jetzt kostenfrei testenWie wäre die Welt heute, wenn das Elektroauto vor 100 Jahren nicht als „Frauenauto“ abgestempelt worden wäre? Bereits im frühen 20. Jahrhundert galt das Elektroauto als technisches Wunderwerk und Vorreiter der Mobilitätswende. Im Jahr 1900 war nahezu jedes zweite Fahrzeug in den USA elektrisch betrieben. Bis 1912 erlebte der E-Auto-Markt in den USA einen wahren Boom. Rund 34.000 Elektrofahrzeuge mit Reichweiten von 100 Kilometern und mehr wurden registriert und machten damit 38 Prozent der Fahrzeuge auf amerikanischen Straßen aus. Im Vergleich dazu hatten nur 22 Prozent der Autos einen Benzinmotor. Und in Europa? Auch hier gab es schon früh die ersten straßentauglichen Pkw mit Reichweiten bis zu 40 Kilometer.
Doch warum setzten sich elektrisch angetriebene Autos nicht durch? Schon damals lagen die Vorteile der Elektromobilität auf der Hand: sauber, leise, unkompliziert, günstig. Kein Geruch von Benzin, keine Kurbel, um den Motor zu starten, und keine Gefahr, sich beim Getriebewechsel die Hände zu brechen. Und die Reichweiten waren für kurze Besorgungsfahrten durchaus ausreichend. Das machte das E-Auto besonders attraktiv für eine aufstrebende Gesellschaftsschicht: Frauen.
Bequemlichkeit wurde als „weiblich“ abgestempelt
Damals wurde ironischerweise Bequemlichkeit schnell als „weiblich“ abgestempelt, während sich die Männer heldenhaft mit knatternden Verbrennern und deren mechanischen Tücken herumschlugen. Es kam, wie es kommen musste: Das Label „Frauenauto“ war geboren, und mit ihm kam das Ende des Elektroautos als ernsthafte Konkurrenz für den Benziner. Denn was in der maskulin geprägten Welt des Automobilmarketings „weiblich“ war, konnte ja unmöglich das Auto der Zukunft sein. Eine der größten technologischen Innovationen der damaligen Zeit wurde zur Stilfrage degradiert.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Elektromobilität heute von Frauen und Männern gleichermaßen gefeiert wird. Die einst als „weiblich“ verschriene Einfachheit und Effizienz wird nun als Tugend angesehen. Wer konnte ahnen, dass die einstigen, vermeintlichen Schwächen – leise, sauber, unkompliziert – zu Stärken werden würden?
Aber hier kommt ein wichtiger Gedanke: Hätten Frauen in den vergangenen 100 Jahren eine prominentere Rolle in der Automobilindustrie gespielt, wäre das Elektroauto vielleicht nie verschwunden. Frauen hätten möglicherweise die Qualitäten des „Frauenautos“ verteidigt, weiterentwickelt und früher salonfähig gemacht. Das würde nicht nur der Umwelt, sondern auch der Diversität in der Branche guttun. Doch leider konnten sich auch die Pionierinnnen der Mobilität wie Bertha Benz (die eigentliche Chefin des Automobilkonzerns) oder Anne d’Uzès (die erste Frau mit Führerschein und Knöllchen) in der damaligen Zeit nicht behaupten.
Fakt ist jedoch, dass erst in den vergangenen Jahren die Elektromobilität wieder als technische Neuerung interessant wurde. Technikaffine Männer, die man früher zumeist in der TV-Abteilung diverser Medien-Kaufhäuser herumlungern sah, brechen nun auf, die Welt der elektrisch angetriebenen Fahrzeuge zu erkunden und tauschen sich in einer schier unendlichen Freude über Stromverbräuche, Ladekapazitäten und Strömungswiderstandskoeffizienten aus. Doch halt: Hier läuft doch wieder etwas falsch.
Bedürfnisse aller Geschlechter müssen berücksichtigt werden
Die Gestaltung und Planung von unterschiedlichen Verkehrssystemen und -strukturen bedarf einer Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Geschlechter. Ziel muss es sein, Barrieren abzubauen und Mobilität gleichberechtigt zu gestalten.
Wir brauchen eine gendergerechte Mobilität!
Unterschiedliche Nutzungsgruppen haben diverse Mobilitätsmuster. So ist das Sicherheitsempfinden bei Frauen, die an unbeleuchteten Ladepunkten in den dunkelsten Ecken im Abseits eines Parkplatzes ihr Auto laden müssen, ein anderes als bei Männern, die da vielleicht weniger Probleme haben. Barrierefreiheit bedeutet nicht nur die Möglichkeit, mit der Kreditkarte ad hoc zahlen zu können. Elektromobilität muss bezahlbar sein, auch für Menschen mit geringem Einkommen.
Aktuell beleuchten viele Mobilitätskonzepte primäre und lineare Wegstrecken, wie zum Beispiel die Fahrten zur Arbeit und zurück nach Hause. Gendergerechte Mobilität berücksichtigt vielmehr die Vielschichtigkeit der Wege anhand der Bedürfnisse. Die Wegeketten von Frauen sind oft komplexer, da sie zusätzlich zur Arbeit die Versorgung der Familie übernehmen, Einkäufe erledigen, Kinder von A nach B und später nach C transportieren und auf dem Weg auch noch mal bei den Eltern vorbeischauen. Es gibt dann wenige Möglichkeiten, in Ruhe zu laden.
Mobilität muss inklusiv und nachhaltig gestaltet werden. Der Markt sollte sich an den Kundenwünschen und dem Nutzerverhalten aller Menschen orientieren. Dafür setzen wir Mitglieder der Electrified Women uns ein.
Wir stellen die Bedürfnisse der E-Auto fahrenden Frauen in den Vordergrund. Wir stehen parat, um Fragen der Frauen zu beantworten, seien sie noch so selbstverständlich. Für jede von uns gab es ein „erstes Mal“. Wir kennen die Sorgen und Bedenken der Frauen und sind da, um mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wir geben jeder Fragenden Hilfestellung und zeigen Lösungsansätze. Aber auch in der Gesellschaft fordern wir unseren Platz und setzen uns auf politischer Ebene für die Interessen der E-Mobilistinnen ein.
Elektroautos sind einfach besser
Wir wünschen uns eine unkomplizierte, sichere und preisgünstige Mobilität, die einfach im Alltag funktioniert. Wir genießen den Fahrspaß und möchten viele weitere Frauen elektrifizieren und unsere Begeisterung teilen.
Heute haben wir die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Mobilitätswende braucht kreative Köpfe, unterschiedliche Perspektiven und den Mut, alte Denkmuster hinter sich zu lassen. Dabei müssen wir sicherstellen, dass Elektroautos nicht erneut zu Symbolen werden – weder für ein Geschlecht noch für eine soziale Klasse. Denn Mobilität ist für alle da.
Vielleicht können wir eines Tages auf die Geschichte des „Frauenautos“ zurückblicken und darüber lachen – als eine absurde Episode, die uns zeigt, wie weit wir gekommen sind. Bis dahin: Lasst uns die Straßen mit leisen, summenden Elektroautos erobern. Nicht, weil sie besser zum weiblichen oder männlichen Geschlecht passen, sondern weil sie einfach besser sind.
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