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Standpunkte Europa braucht einen Industrie-Deal

Ariane Reinhart, Vorständin für Personal und Nachhaltigkeit bei Continental
Ariane Reinhart, Vorständin für Personal und Nachhaltigkeit bei Continental Foto: promo

Zu viel Bürokratie hemmt den Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Ein Beispiel ist der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), der „CO2-Schlupflöcher“ schließen soll. Ideen für eine Reform der Brüsseler Überregulierung von Ariane Reinhart, Vorständin für Personal und Nachhaltigkeit, und Steffen Schwartz-Höfler, Leiter Nachhaltigkeit, beim Autozulieferer Continental.

von Ariane Reinhart

veröffentlicht am 22.07.2024

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Noch sind die politischen Implikationen der jüngsten Wahl zum Europäischen Parlament nur in Umrissen erkennbar. Aber schon jetzt scheint klar, dass der Green Deal der Europäischen Union (EU), den die Kommission und das Parlament in der vergangenen Legislaturperiode angestoßen haben, auf den Verhandlungstisch kommt.

Positiv ist einerseits, dass mit der Initiative die notwendige grüne Transformation innerhalb der EU mit großen Schritten vorangetrieben wird. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass sie mehr und mehr zu einer Bürokratiewelle unbekannten Ausmaßes führt, die Unternehmen zu überrollen droht.

Ein Beispiel dafür ist der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM). Dieser soll eine Verlagerung von CO2-Emissionen in Länder, in denen der Klimaschutz weniger streng geregelt ist, verhindern. Denn die EU sieht die Gefahr, dass Unternehmen verstärkt Waren aus diesen Ländern importieren oder ihre Produktion dorthin verlagern könnten. Mit dem CBAM hat die Kommission zum Oktober 2023 ein CO2-Grenzausgleichssystem in Kraft gesetzt, durch welches für importierte und für in der EU hergestellte Produkte der gleiche CO2-Preis gilt.

Guter Gedanke – schlechte Umsetzung

An sich ist das Regelwerk eine gute Idee, da „CO2-Schlupflöcher“ geschlossen werden. Doch rund ein Dreivierteljahr nach dem Start bestehen immer noch viele Unklarheiten. Jedes betroffene Unternehmen musste sich zunächst auf einem Portal registrieren und dafür eine aufwendige bürokratische Prozedur durchlaufen – selbst dann, wenn es nur ein paar Kleinteile im Wert von wenigen hundert Euro in Drittstaaten einkauft.

In Aussicht gestellte Pauschalwerte für CO2-Fußabdrücke einzelner Güter standen zu dem Zeitpunkt nicht zur Verfügung. Ab Juli 2024 müssen Unternehmen für bestimmte Importe mehr als 200 Angaben von den Lieferanten anfordern, die nicht in der EU ansässig sind. Sie selbst haben auf diese Informationen nur in den seltensten Fällen einen direkten Zugriff.

Wie viel Energie wird zum Beispiel bei der Produktion von einer Tonne Stahl in einem bestimmten Ofen an einem bestimmten Standort verbraucht? Wie wird diese Energie erzeugt? Wie viel CO2 entsteht dabei? Wie viel beim Transport? Es ist fast unmöglich für hiesige Firmen, all diese Informationen vollständig und genau zu erheben. Dennoch können Verstöße gegen die Berichtspflicht bereits in der Übergangsphase mit Bußgeldern geahndet werden.

Unternehmen verschwenden erhebliche Ressourcen

Die holprige Einführung des CBAM zeigt exemplarisch: Viele Gesetze und Regelwerke der EU rund um Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind nicht zu Ende gedacht. Sie werden übereilt durch den Beschlussprozess gepeitscht, sind im Ergebnis praxisfern konzipiert und weisen handwerkliche Mängel auf.

Der organisatorische Aufwand der Unternehmen bei der praktischen Umsetzung wird zudem regelmäßig unterschätzt. In der Folge verschwenden Unternehmen erhebliche Ressourcen darauf, Vorgaben und Regeln zu interpretieren und möglichst konform umzusetzen, anstatt sich auf ihre eigentliche grüne Transformation zu fokussieren.

Vor drei Jahren entfielen zum Beispiel im Zentralbereich Nachhaltigkeit von Continental 80 Prozent der Kapazitäten auf die Umsetzung strategischer Themen, 20 Prozent waren mit formalen Vorschriften ausgelastet. Dieses Verhältnis liegt aktuell bei fünf zu 95 Prozent – bei gleichzeitig massiv ausgebauten personellen Ressourcen.

Für die Umsetzung der neuen Berichtspflichten zu Nachhaltigkeit im Geschäftsbericht (CSRD) kommt das Bundesjustizministerium in einer konservativen Kostenschätzung auf 1,4 Milliarden Euro jährlich für die deutsche Wirtschaft – nur für die Berichterstattung. Dazu kommen hohe potenzielle Bußgelder bei Verstößen und strenge Haftungsregelungen.

Der steigende Druck durch die Regulatorik und die Unsicherheiten in der Praxis drohen genau das zu forcieren, was verhindert werden soll: eine schwindende Akzeptanz innerhalb der Unternehmen (und in der Bevölkerung) bei der Umsetzung der Transformation. Die Frage ist, was passieren muss, damit diese unerwünschte Entwicklung verhindert wird?

  • Stärkere Anreize für die Transformation. Ein einheitlicher CO2-Preis für CBAM-Importe wäre sinnvoll. Unternehmen, die nachweisen können, dass sie mit besserer Klimaperformance einkaufen, bekommen den Preis der entsprechenden Zertifikate vom Staat erstattet. Weniger Bürokratie und Klimaschutz lohnen sich sofort.

  • Fokussierung auf das Machbare. Mit Einführung der Direktive zur Nachhaltigkeitsberichterstattung wurden kein halbes Jahr vor dem ersten Berichtsjahr zwölf Standards eingeführt, die je nach Zählweise zwischen 1000 und 4000 Angaben erfordern. Effizienter und sinnvoller wäre gewesen, mit den wichtigsten ein oder zwei Standards zu starten – zum Beispiel Klima und Menschenrechte. Erst danach wären weitere hinzugenommen. Das spart Geld, Nerven und verbessert die Qualität der Informationen.

  • Praxistaugliche Gesetze. Statt Nachhaltigkeitsdirektiven in hohem Tempo durchzudrücken, muss der Gesetzgeber einen strukturierten Prozess vor der Verabschiedung verankern. Dazu gehört eine verpflichtende Erprobungsphase mit repräsentativen Piloten in engem Austausch mit den betroffenen Unternehmen. Die Erkenntnisse fließen in die Ausgestaltung von Regelwerken wirksam ein. Die Unzahl bestehender Regeln wird vor diesem Hintergrund auf den Prüfstand gestellt und mit neuen Erkenntnissen entsprechend angepasst. So werden die Gesetze auch wirksamer.

  • Weniger Bürokratie. Ein vergleichsweise kleiner und einfach umzusetzender Beitrag wäre eine konsequente Anwendung des Konzernprivilegs. Das deutsche Lieferkettengesetz zeigt, wie es nicht geht: Dafür muss Continental für das Jahr 2023 drei Berichte an die zuständige Behörde abgeben – einen für die Konzernmutter und zwei fast identische für zwei große Tochterunternehmen. Beim europäischen Lieferkettengesetz hingegen kann man die EU loben: Der Konzernnachhaltigkeitsbericht reicht auf EU-Ebene aus – kein Extrabericht für das Lieferkettengesetz und keiner für konsolidierte Tochterunternehmen. Diesen Ansatz gilt es konsequent durchzuziehen.

Für die Umsetzung dieser Punkte müssen vor allem die politisch Verantwortlichen in Deutschland dazulernen. Sie müssen ihren Einfluss in Brüssel bei der Nachhaltigkeitsgesetzgebung und Regulierung stärker als bisher geltend machen. Und zwar bereits bei ersten Vorschlägen und Sondierungen und nicht erst in den Abschlussberatungen, in denen erfahrungsgemäß nur noch kosmetische Korrekturen möglich sind.

Ziel muss es sein, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken. Entscheidend dafür ist, den Transformationsprozess von Industriebranchen nicht zu blockieren, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Zukunftsfelder entstehen – in denen sich die Unternehmen Wettbewerbsvorteile erarbeiten können. Dazu gehört auch, dass der Staat eine wirksame Wahrnehmung von Sorgfaltspflichten ermöglicht, indem er beispielsweise in Handelsbeziehungen die notwendigen Voraussetzungen für die Einhaltung von Menschenrechten schafft.

Nach dem Green Deal braucht es einen Industrie-Deal für Transformation – und mehr Mut neue Wege auszuprobieren. Auch wenn noch nicht alles perfekt ist. Nur so kann die grüne Transformation gelingen.

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