Die EU diskutiert ihr Klimaziel für 2030. Politisch wird diese Diskussion – wie so oft – von Zahlen dominiert: Soll die EU bis 2030 ihre Treibhausgasemissionen um 50, 55, 60, 65 Prozent oder eine andere Zahl senken? Dies ist offensichtlich eine wichtige Diskussion, aber sie darf eine andere Frage nicht überdecken: Soll das 2030-Klimaziel ein Netto- oder ein Bruttoziel sein? Bei einem Nettoziel werden CO2-Entnahmen aus der Atmosphäre für die Zielerreichung angerechnet. Bei einem Bruttoziel ist dies nicht möglich, es gelten nur Emissionsreduktionen.
Politisch wird diese Diskussion in den kommenden Wochen in der EU einen vorläufigen Höhepunkt finden. Der Trilog zum EU-Klimaschutzgesetz beginnt. Das Parlament hat ein Bruttoziel von 60 Prozent bis 2030 vorgeschlagen. Demgegenüber will die Kommission ein Nettoziel von 55 Prozent. Der Ministerrat hat diese Frage offengelassen; die Regierungschefs sollen über das 2030-Ziel im Dezember entscheiden, nach einem ersten Beschlussentwurf scheinen sie sich für ein Nettoziel von 55 Prozent aussprechen zu wollen.
Vielfache Schwierigkeiten mit Nettozielen
Zurzeit hat die EU für 2030 ein Bruttoreduktionsziel. Bis 2030 will die EU ihre Treibhausgasemissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 senken. CO2-Entnahmen – sei es durch Wälder und Moore oder aber durch technische Senken – können für die Zielerreichung nicht angerechnet werden. Diese Zielstruktur ist besser als Nettoziele. Denn Nettoziele haben vier Probleme.
Erstes Problem: Nettoziele sind nicht transparent. Sie können – beispielsweise – mit großen Reduktionen oder mit erheblichen CO2-Entnahmen erreicht werden. Beides reicht gleichermaßen für die Zielerreichung. Das Klimaneutralitätsziel für 2050 etwa könnte mit 95 Prozent Reduktionen und fünf Prozent CO2-Entnahmen erreicht werden, es könnte aber auch mit 80 Prozent Reduktionen und 20 Prozent Entnahmen erfüllt werden. Ein 2030-Nettoziel könnte ebenfalls in sehr unterschiedlicher Weise umgesetzt werden. Dieser Mangel an Klarheit erschwert Investitionsentscheidungen, da der Anteil von Emissionsrestmengen und der daran hängende Investitionsbedarf im Dunkeln bleiben.
Zweites Problem: Nettoziele vergleichen Äpfel und Birnen und schwächen Klimaschutz. Im Vergleich zu Emissionsreduktionen sind CO2-Entnahmen die schwächere Art des Klimaschutzes. Die Dauerhaftigkeit der CO2-Speicherung ist die Achillesferse natürlicher Senken. Sie ist auch ein Problem für technische Senken, etwa, wenn abgeschiedenes CO2 in Plastik oder unsicheren geologischen Formationen gespeichert wird. Kurz: Keine Form der Entnahme speichert CO2 in gleicher verlässlicher Weise wie Öl, Kohle und Gas im Boden, den besten „Senken“ der Welt.
Drittes Problem: Nettoziele behandeln alle Formen der CO2-Entnahme gleich. Es spielt etwa keine Rolle, ob CO2 durch Monokulturen zur Bioenergieerzeugung mit anschließender energetischer Nutzung mit CCS (BECCS) entnommen wird oder durch die Wiederherstellung beschädigter Wälder und Mooren. Dies ist problematisch. Es macht einen gewaltigen Unterschied für Biodiversität, Böden und Wasser, ob Monokulturen oder gesunde Ökosystem CO2 der Atmosphäre entziehen. Es macht auch einen großen Unterschied für die Klimaresilienz von natürlichen Senken – die trockenen Sommer der letzten Jahre haben deutlich die Anfälligkeit von Monokulturen aufgezeigt.
Monitoring und Datenqualität sind Schwachstelle
Viertes Problem: Nettoziele haben Probleme bei Monitoring und Datenqualität. Im Vergleich zu Emissionsreduktionen ist es schwieriger die CO2 Entnahmeleistungen von natürlichen Senken verlässlich zu messen – gegenwärtig die einzig relevante Form der Entnahme. Natürliche Senken sind dynamische Systeme, deren CO2-Entnahmeleistungen erheblichen Schwankungen und Unsicherheiten unterliegen. Diese Unsicherheiten gibt es bei der Berechnung von CO2-Emissionen in vergleichbarer Form nicht.
Die grundsätzliche Unterschiedlichkeit von Reduktionen und Entnahmen muss aber nicht nur in der EU-Zielarchitektur reflektiert sein, sondern auch in der EU-Regulierung. Aus diesem Grund sind Vorschläge, Entnahmeeinheiten in den Emissionshandel einzuführen, grundsätzlich problematisch. Der Emissionshandel sollte auch in Zukunft nur eine Währung – Reduktionen – haben und nicht durch eine Zweitwährung mit zweifelhaftem Wert geschwächt werden. Dasselbe gilt auch für die EU Klimaschutzverordnung – auch dort dürfen nicht zwei Währungen mit unterschiedlichem Wert in den Umlauf gebracht werden.
Um diesen inhärenten Schwächen von Nettozielen gerecht zu werden aber gleichzeitig notwendige Anreize für die Entnahme zu stärken, sollte die EU getrennte Ziele für Reduktionen und Entnahmen festlegen. Diese Ziele würden einen sehr großen Teil von Reduktionen an den Gesamtanstrengungen und einen sehr kleinen Anteil für CO2-Entnahmen vorsehen. Nach dem 1,5-Life-Szenario der Langfriststrategie der Kommission wären dies beispielsweise Reduktionen von 95 Prozent und Entnahmen von fünf Prozent. Dieses System würde unmissverständlich klarmachen, dass Reduktionen Priorität haben. Das EU-Klimaschutzgesetz könnte und sollte diese getrennte Ziele rechtlich verbindlich festlegen.
Nettoziele gehören nicht mehr in den Werkzeugkasten
Ein getrenntes System kann auch festlegen, dass Entnahme nicht gleich Entnahme ist. Es könnte bestimmen, dass die Erreichung des EU-Entnahmeziels vor allem durch die Wiederherstellung beschädigter Ökosysteme geschehen soll – der einzigen No-Regret-Entnahmeoption. Gleichzeitig könnten in diesem System mit klaren Kriterien definiert werden, welche anderen Entnahmeformen für die Zielerreichung angerechnet werden können.
Zu einer Zeit, in welcher die EU ihre Politik fit für ihren fairen Beitrag zur Umsetzung des Pariser Abkommens machen will, gehören Nettoziele nicht mehr in den klimapolitischen Werkzeugkasten. Eine klare Trennung zwischen Reduktionen und CO2-Entnahmen kann die klimapolitische Integrität der EU-Klimapolitik sicherstellen und gleichzeitig notwendige Anreize für CO2-Entnahme in der richtigen Weise setzen. Sie schafft Klarheit im Verhältnis zwischen Reduktionen und Senken und fördert damit gesellschaftliche Akzeptanz.