Standpunkte Wie Zentralisierung neue Verkehrsinfrastruktur verzögert und verteuert

Neue Straßenbahn- oder U-Bahn-Projekte ließen sich viel schneller und günstiger umsetzen, wenn Kommunalpolitiker:innen sie eigenständig planen, finanzieren und genehmigen könnten. Länder, die sich stark auf die föderale Ebene verlassen, können viel von französischen Städten oder Madrid lernen.
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Jetzt kostenfrei testenVor den Regionalwahlen 1995 in Madrid versprach die dortige Mitte-Rechts-Partei „Partido Popular“ (PP), innerhalb einer Amtszeit 48 Kilometer neue U-Bahn-Strecken zu bauen. Am Ende wurden innerhalb der vier Jahre dann sogar 56 Kilometer geschafft. Man vergleiche das mit einem Wahlversprechen der kürzlich wiedergewählten Bürgermeisterin von West Yorkshire, Tracy Brabin: Sie erklärte, dass am Ende ihrer vierjährigen Amtszeit der Bau einer neuen Straßenbahnlinie in Leeds beginnen könne. Von einer Fertigstellung war keine Rede.
Dabei ist Leeds die größte Stadt in Europa ohne schienengestützten Nahverkehr. Das soll kein Vorwurf an Brabin sein. Es wäre im Vereinigten Königreich ziemlich schnell, nach vier Jahren mit dem Bau eines ÖPNV-Projekts zu beginnen. Hier braucht es oft rund ein Jahrzehnt, bis man von der Zentralregierung dafür die Genehmigung und finanzielle Mittel erhält. Der Vergleich zeigt, wie viel einfacher die Umsetzung von Infrastrukturprojekten gelingen kann, wenn Genehmigungsentscheidungen und Finanzierung auf der richtigen politischen Ebene angesiedelt werden.
Machtlose Kommunalpolitik ist ein Problem
Die „Asamblea de Madrid“, die Regionalversammlung von Madrid, ist mächtig. Sie kann Steuern erheben, um Baukosten zu decken, Projekte genehmigen und Gesetze erlassen, die den Aufwand für Umweltverträglichkeitsprüfungen bei der Metro-Erweiterung erheblich verringern. Bürgermeister:innen im Vereinigten Königreich haben keine dieser Befugnisse. Das führt beim Bau neuer Infrastruktur zu einem ständigen Hin und Her zwischen der Zentralregierung und den lokalen Behörden. In der Folge wird es schwieriger, Projekte schnell und kostengünstig umzusetzen.
Dezentralisierung ist kein Allheilmittel. Aber wenn Länder die Kosten für den Bau von Nahverkehrsprojekten senken wollen, müssen sie die Verantwortung an Politiker:innen übertragen, denen die Umsetzung am Herzen liegt. Denn worum geht es in der Politik grundsätzlich? Um das Gewinnen von Wahlen. Da ein lokales Verkehrsprojekt lokale Auswirkungen hat, wird es bei nationalen Wahlen in der Regel keine entscheidende Rolle spielen. Es besteht für Politiker:innen auf Bundesebene kaum ein Anreiz, sich wirklich um die Umsetzung zu kümmern.
Wenn die lokale oder regionale Infrastruktur auf nationaler Ebene verwaltet wird, fehlen Politiker:innen, die höhere Kosten oder eine scheiternde Umsetzung wirklich fürchten müssen. Ein Projekt wie „Lower Thames Crossing“, ein Straßentunnel unter der Themse hindurch, mag mit 300 Millionen Pfund (360 Millionen Euro) die höchsten Kosten allein für einen Planungsantrag aller Zeiten aufweisen. Aber wenn man diese auf alle britischen Haushalte umlegt, betragen die Kosten jeweils weniger als zehn Pfund – kaum ein national wahlentscheidendes Thema.
Hinzu kommt, dass die meisten Steuerzahler:innen im Vereinigten Königreich von solch einem konkreten Projekt gar nicht direkt profitieren. Wenn die Kosten steigen, ist diese Mehrheit schnell bereit, das Vorhaben komplett zu kippen. Oder neue Infrastruktur wird schon im Voraus verhindert, weil es den meisten nicht persönlich nützt. Letzteres geschieht im Vereinigten Königreich besonders oft. Bei Wahlen auf subnationaler Ebene hingegen kann der Bau neuer Verkehrsinfrastruktur ein entscheidendes Thema sein.
Gestaltungsspielräume beim Ausbau des Nahverkehrs entscheiden Wahlen
Vor dem Versprechen der PP, die U-Bahn in Madrid auszubauen, hatte die Partei noch nie eine Regionalwahl in Madrid gewonnen. Nach Baubeginn hat sie dann keine Wahl mehr verloren. In Gesprächen, die ich mit hochrangigen PP-Politiker:innen geführt habe, ist ihnen sehr bewusst, wie eng der Erfolg des U-Bahn-Baus mit ihrem Abschneiden bei Wahlen verknüpft ist. Dass es dort für Politiker:innen besonders attraktiv ist, U-Bahn-Linien schnell und kostengünstig umzusetzen, sieht man an den Eröffnungsdaten der Projekte in Madrid: 1999, 2003 und 2007.
Jeweils im Vorfeld der Regionalwahlen fand eine Flut von Eröffnungen neuer Linien und Stationen statt, um den Erfolg der amtierenden Regierung zu belegen. Diese Eröffnungsfeiern waren so zahlreich, dass sich eine konkurrierende politische Partei darüber beschwerte, dass die PP diese zu politischen Zwecken instrumentalisiere. Wenn der Nahverkehrsausbau bei lokalen oder regionalen Wahlen nicht nur Thema ist, sondern eigenständig umgesetzt werden kann, hat das viele Vorteile. Das zeigt sich auch außerhalb von Madrid.
Frankreich schafft Planung und Umsetzung neuer Tramlinien in vier Jahren
Frankreich hat eine Renaissance der Straßenbahn erlebt: 21 französische Städte haben in diesem Jahrhundert eine Straßenbahn gebaut. Französische Lokalpolitiker:innen können mit dem Versprechen kandidieren, innerhalb ihrer sechsjährigen Amtszeit eine neue Straßenbahnlinie zu bauen. Und sie haben dann als Bürgermeister:innen die Möglichkeiten, das einzulösen. Die wichtigste Finanzierungsquelle dafür ist der „Versement mobilité“, eine auf lokaler Ebene erhobene ÖPNV-Steuer für Arbeitgeber.
Alles in allem können französische Straßenbahnen dadurch innerhalb von zwei Jahren geplant, finanziert und auf lokaler Ebene genehmigt werden. Für den Bau braucht es dann weitere zwei Jahre – in Großbritannien dauert der Prozess mehr als 13 Jahre. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Baukosten pro Kilometer in Frankreich nur etwa halb so hoch sind wie im Vereinigten Königreich. Dabei weist Frankreich im internationalen Vergleich nicht einmal die niedrigsten Kosten pro Kilometer auf.
Das ist teilweise darauf zurückzuführen, dass französische Straßenbahnprojekte meist mit Verschönerungen des öffentlichen Raums verbunden werden. Vielleicht liegt diese Kombination daran, dass die zuständigen Bürgermeister:innen neben der Bereitstellung neuer Verkehrsmittel ebenso ein Interesse daran haben, die Aufenthaltsqualität in ihren Städten zu verbessern.
Städte sollten unabhängiger agieren können
Die politischen Implikationen meiner Argumentation, dass Kommunalpolitiker:innen ermächtigt werden sollten, den Nahverkehrsausbau selbstständig und schnell zu realisieren, sind recht einfach. Kommunalpolitiker:innen brauchen einen Wahlanreiz, sich um Verkehrsprojekte zu kümmern. Dafür müssen sie die Befugnis haben, Verkehrsprojekte in ihrer Region zu genehmigen, zu finanzieren und zu beaufsichtigen. In Großbritannien würde dies drei wesentliche Änderungen bedeuten:
- Man müsste Genehmigungsverfahren für neue Straßenbahnlinien und U-Bahn-Projekte auf die jeweiligen Städte verlagern.
- Bürgermeister:innen größerer Städte sollten neue Möglichkeiten zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten erhalten.
- Städte sollten Umweltverträglichkeitsprüfungen für nachhaltige Infrastrukturprojekte vereinfachen können.
Wenn man den Bürgermeister:innen diese Befugnisse einräumt, müssen sie Verantwortung für die Umsetzung übernehmen. Künftige Politiker:innen könnten Wahlen mit einlösbaren Versprechen gewinnen, zeitnah neue Infrastruktur zu schaffen. Wenn sie ihre Versprechen nicht einhalten, können die Wähler:innen sie zur Rechenschaft ziehen; falls die Projekte abgeschlossen werden, können Wähler:innen sie mit einer Wiederwahl belohnen. Das ist kein Garant für Schnelligkeit und niedrige Kosten – aber ein Anreiz.
Dieser Text erschien zuerst in Ben Hopkinsons Newsletter „Yes and Grow“. Mit dessen Einverständnis hat Tagesspiegel Background diesen gekürzt und ins Deutsche übersetzt.
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