Erweiterte Suche

Digitalisierung & KI

Standpunkte Was der AI Act für den Mittelstand bedeutet

Simon Müller, Chief Technology Officer bei Wattx
Simon Müller, Chief Technology Officer bei Wattx Foto: Foto: Wattx

Der AI Act soll KI auf europäischer Ebene sicherer machen. Dazu gehören auch strenge Regularien, die Diskriminierung und Datenpannen verhindern sollen. Doch der Compliance-Zwang kann die Innovationskraft von Unternehmen auch lähmen. Von der Angst, etwas falsch zu machen, profitieren vor allem Berater, argumentiert Simon Müller, der Chief Technology Officer von Wattx, einem der führenden Start-up-Inkubatoren in Deutschland.

von Simon Müller

veröffentlicht am 14.10.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Der Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, steht vor einer neuen Herausforderung: dem EU AI Act. Dieser soll den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) sicherer machen, bringt aber vor allem eines mit sich – bürokratische Hürden. Investitionen in KI verlagern sich zunehmend in Compliance-Maßnahmen, das Vertrauen in die Technologie sinkt. Eine Entwicklung, die besonders für mittelständische Unternehmen alarmierend ist, denn dort ist die Angst vor Strafen größer als die Bereitschaft, neue Technologien zu nutzen. Die Folge: Innovationsstau und ein starker Fokus auf Regulierungen.

EU AI Act: Bürokratische Hürde oder Schutzmaßnahme?

Der EU AI Act wurde entwickelt, um den Einsatz von KI-Systemen in Europa sicherer und transparenter zu machen. Unternehmen, die KI einsetzen, müssen sicherstellen, dass ihre Systeme den strengen Regularien entsprechen – dazu gehören Vorgaben in Bezug auf Transparenz, Datenschutz und die Vermeidung von Diskriminierung. Doch was als Schutz gedacht ist, führt im Mittelstand immer mehr zu Panik. Berater und Anwälte wittern bereits das nächste große Geschäft, während Unternehmen, getrieben von der Angst vor Strafen oder Kontrollverlust, in einen Compliance-Modus verfallen. Was in der Theorie eine vernünftige Regulierung ist, wird in der Praxis zum Innovationskiller.

Die Parallelen zur Einführung der DSGVO sind unübersehbar. Schon damals investierten Unternehmen immense Summen in Compliance-Beratung und Maßnahmen zur Einhaltung der neuen Regeln – oft auf Kosten von Innovationsprojekten. Auch heute profitieren vor allem Berater von der Unsicherheit, die der EU AI Act mit sich bringt. Der Mittelstand selbst? Er steht unter Druck, Fehler zu vermeiden und sich an die neuen Vorschriften zu halten, bevor er überhaupt beginnt, das Potenzial von KI auszuschöpfen.

KI im Mittelstand: Compliance statt Innovation

Oft sind es die IT-Abteilungen, die dem Einsatz von KI kritisch gegenüberstehen. Getrieben von der Angst, durch falsche Entscheidungen haftbar gemacht zu werden, sorgen strikte Compliance-Richtlinien dafür, dass Investitionen in KI auf Eis gelegt werden. Besonders betroffen sind interne Abteilungen wie HR, die durch die neuen Regularien in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt werden. Dabei wären gerade diese Abteilungen prädestiniert, von KI-basierten Automatisierungslösungen zu profitieren, um wiederkehrende Aufgaben zu beschleunigen und die Effizienz zu steigern.

Hinzu kommt der Druck zur Zertifizierung. ISO-Normen wie die ISO 42001, die ein KI-Management-Framework vorgeben, gewinnen an Bedeutung. Unternehmen wollen das Gefühl von Sicherheit – ein „Haken dran“ ist wichtiger als echte Innovation. Der Fokus auf die Einhaltung von Normen und Standards erstickt die Dynamik, die KI eigentlich mit sich bringen sollte.

Zertifikate und Schulungen werden zum Selbstzweck, da Unternehmen ihre Mitarbeiter (und hauptsächlich sich selbst) mit Blick auf die Haftungsfrage absichern wollen. Prinzipiell sind Schulungen wichtig und richtig, doch diese Maßnahmen führen oft zu einer Verschiebung der Verantwortung – weg vom Unternehmen, hin zu den Mitarbeitern. Sie müssen die neue Technologie nicht nur verstehen, sondern auch sicherstellen, dass sie den strengen regulatorischen Anforderungen gerecht wird.

Die Daten-Grauzone

Eine der größten Herausforderungen des EU AI Acts liegt im Bereich der Daten. Strenge Vorgaben, welche Daten genutzt werden dürfen und wie sie verarbeitet werden müssen, sorgen für Unsicherheit. KI-Anbieter müssen darauf achten, dass ihre Systeme regelkonform arbeiten – ein Vorgang, der Innovationen ausbremst. Das Vertrauen in KI sinkt, da die Angst überwiegt, dass sensible Daten falsch genutzt oder verarbeitet werden könnten.

Ein drastisches Beispiel dafür ist Google, das kürzlich bestimmte Funktionen zur Bildgenerierung deaktivierte, um rechtliche Risiken zu vermeiden. Das Risiko, dass KI ungewollte Inhalte generiert, war zu groß. Damit niemand eine Päpstin oder andere „Ungenauigkeiten in Darstellungen geschichtlicher Zusammenhänge” erzeugt, schaltet Google die Möglichkeit ab, Menschen in Bildern zu generieren. Solche Maßnahmen zeigen, wie tiefgreifend die Auswirkungen der neuen Regulierungen sein können. Statt mit neuen Technologien zu experimentieren, steht der Fokus auf Schadensbegrenzung.

Der EU AI Act als Chance für Innovation

Doch es gibt auch positive Ansätze, wie Unternehmen innovativ mit KI und Daten umgehen können. Hier ein Beispiel: Als mittelständisches Unternehmen kann man einen Innovationshub aufbauen, der auf die intelligente Nutzung von KI setzt. In Kooperation mit Start-ups und Forschungsinstituten kann so nicht nur an der Einhaltung von Compliance-Vorgaben gearbeitet werden, sondern gleichzeitig KI zur Effizienzsteigerung in der Produktion und zur Produktentwicklung eingesetzt werden. Mithilfe moderner Algorithmen und präziser Datenanalysen können Produkte schneller auf den Markt gebracht werden – und das unter Berücksichtigung gesetzlicher Anforderungen. Ein kreativer Umgang mit dem EU AI Act, ohne die Innovationskraft zu verlieren.

Wem das zu komplex erscheint: Es muss nicht unbedingt ein ganzer Innovationshub sein. Bereits kleinere Initiativen wie die Identifikation konkreter Anwendungsfälle, in denen KI gezielt eingesetzt werden kann, sind einfache, aber effektive Schritte. So lassen sich Innovationsprojekte pragmatisch vorantreiben, ohne dabei den regulatorischen Rahmen aus den Augen zu verlieren.

Man muss die richtige Balance finden

Während die Welt in der Nutzung von KI rasant voranschreitet, droht Europa, den Anschluss zu verlieren und zertifiziert sich selbst zu Tode. Statt innovativ voranzugehen, steht der Kontinent am Rande eines Innovationsstaus. Während Unternehmen in anderen Regionen der Welt frei mit KI experimentieren, setzt Europa auf übermäßige Regulierungen und Zertifizierungen. Am Ende bleibt eine hochzertifizierte KI, die jedoch kaum etwas leistet.

Unternehmen sollten den EU AI Act pragmatisch handhaben und ihren Fokus auf Innovation setzen. Investitionen in neue Technologien wie Robotik bieten enormes Potenzial. Zertifizierungen und Compliance sind wichtig, aber sie dürfen nicht der Hauptantrieb für Entscheidungen sein.

Mithilfe von Innovationszentren können kreative Ansätze entwickelt werden. Unternehmen, die Kooperationen mit Startups eingehen und auf den gezielten Einsatz von KI setzen, können ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern und zugleich regulatorische Anforderungen erfüllen. Der Weg zu mehr Innovationskraft führt nicht über das Abhaken von Zertifikaten, sondern durch mutige Investitionen in die Zukunft.

Simon Müller ist Chief Technology Officer des Start-up-Inkubators Wattx und Mitgründer von „Triebwerk AI“, einer KI-Beratung für den Mittelstand.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen