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Gesundheit & E-Health

Arzneimittellieferengpässe Bayerischer Pharmagipfel will Strategie vorgeben

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich in der Vergangenheit schwer damit getan, mit der Pharmaindustrie ins Gespräch zu gehen. Nun hat Bayern die Sache in die Hand genommen und einen Pharmagipfel veranstaltet, um den Arzneimittellieferengpässen mit einer Gesamtstrategie begegnen zu können.

Dana Bethkenhagen

von Dana Bethkenhagen

veröffentlicht am 20.04.2023

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Fast könnte man meinen, Klaus Holetschek (CSU) ist Bundesgesundheitsminister – so präsent ist der bayerische Staatsminister für Gesundheit und Pflege aktuell in Berlin und so nachdrücklich behandelt er die aktuell drängendsten Themen. Nachdem er nicht nur die geplante Pflegereform von Karl Lauterbach (SPD) auseinandergenommen und eigene Vorschläge eingebracht hat, arbeitet er sich zurzeit intensiv an der geplanten Cannabis-Gesetzgebung und der Krankenhausreform ab. Doch bevor er heute gemeinsam mit seinem Kollegen und seiner Kollegin aus Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ein Rechtsgutachten zu den Vorschlägen der Krankenhauskommission vorstellen will, kümmerte er sich gestern erst einmal um ein anderes drängendes Thema: die Pharmapolitik.

Nachdem die Arzneimittellieferengpässe rund um Weihnachten einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, gründete Holetschek kurzerhand eine bayerische Taskforce. Gestern präsentierte er Maßnahmen für eine sichere Arzneimittelversorgung beim Bayerischen Pharmagipfel in der Landesvertretung – und zwar ganz bewusst auf „bayerischem Boden in Berlin“, um die Bundespolitik wachzurütteln und sie von der Notwendigkeit eines bundesweiten Pharmagipfels zu überzeugen.

Holetschek vermisse ganz grundsätzlich den Austausch mit allen Beteiligten in der Sache auf Bundesebne – der Pharmaindustrie, dem Großhandel, der Ärzte- und Apothekerschaft sowie den Kostenträgern. Schließlich sei der Austausch Voraussetzung für die politische Lösungsfindung im Umgang mit den zunehmenden Arzneimittellieferengpässen. „Wir brauchen nicht nur eine Reaktion, sondern eine Strategie“, betonte Bayerns Gesundheitsminister mit Blick auf das jüngst vom Bundeskabinett beschlossene Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (ALBVVG). Mit dem Entwurf seien zwar „erste wichtige und auch richtige Schritte getan“, allerdings würden diese punktuellen Maßnahmen nicht ausreichen.

Vier zentrale Handlungsfelder

„In verschiedenen Arbeitsgruppen haben wir in den vergangenen Monaten konkrete Vorschläge erarbeitet, wie zum Beispiel der Produktionsstandort Deutschland gestärkt werden kann“, erklärte Bayerns Gesundheitsminister. Klar sei, dass sich die Bundesregierung „den immensen Herausforderungen stellen und rasch gegen die zum Teil dramatischen Arzneimittel-Lieferengpässe vorgehen“ müsse. Die Taskforce habe dazu bereits in den vergangenen Monaten vier zentrale Handlungsfelder herausgearbeitet: 1. Rahmenbedingungen für Arzneimittelversorgung verbessern, 2. Versorgung durch Vorhaltemaßnahmen für wichtige Arzneimittel sichern, 3. Liefer- und Versorgungsengpässe durch Transparenz und wirksame Frühwarnsysteme frühzeitig erkennen und 4. bei Liefer- und Versorgungsengpässen pragmatische Verfahren ermöglichen. Ein stoisches Festhalten an Paragrafen sei inmitten einer Krise alles andere als hilfreich, führte Holetschek aus und beklagte beispielsweise Diskussionen mit Krankenkassen über Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressen.

„Um die Arzneimittelversorgung zu gewährleisten, brauchen wir Forschung und Entwicklung genauso wie Produktion in Deutschland und Europa“, sagte Holetschek. Dafür müsse insbesondere die Attraktivität des Pharmastandortes Deutschland gestärkt werden, weshalb auch die Preisspirale für innovative Arzneimittel nicht weiter nach unten gehen dürfe. Geht es nach Holetschek, sollte der erhöhte Herstellerrabatt fristgerecht zum Jahresende auslaufen. „Unabdingbar ist auch ein zeitnaher Inflationsausgleich.“

Der Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie, Roland Weigert (Freie Wähler), betonte in seiner Videobotschaft, „dass die Weichen richtig gestellt werden“ müssen und dass das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) zuletzt vollkommen falsche Signale gesendet habe. Zur Deckung des GKV-Defizits wurden unter anderem Sparmaßnahmen im Arzneimittelbereich eingeführt, beispielsweise die besagte befristete Erhöhung des Herstellerrabattes von sieben auf zwölf Prozent und die Verlängerung des Preismoratoriums bis 2026. Daneben wurden auch strukturelle Änderungen am Bewertungs- und Preisfindungssystem des AMNOG-Verfahrens beschlossen. In einem der drei gestern vorgelegten Positionspapiere heißt es: „Das GKV-FinStG hat – auch mangels eines Dialogs mit den Beteiligten – wesentliche Chancen zur nachhaltigen Stabilisierung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung verpasst.“

Holetschek will Pharmaindustrie „den roten Teppich ausrollen“

Stattdessen habe man den Pharmastandort Deutschland mit dem Gesetz geschwächt, so Holetschek. Man müsse nun dagegen steuern. Statt ein Mehr an Bürokratie und Belastungen für die Arzneimittelhersteller in Deutschland brauche es eine „Entfesselung der Pharmaindustrie“, sagte Weigert und auch Holetschek erklärte, er wolle der Pharmaindustrie „den roten Teppich ausrollen“ und sie zu einer Leitökonomie machen.

Es beunruhige beide Politiker sehr, dass Deutschland im internationalen Vergleich immer weiter zurückfalle, wenn es um die Zahl der durchgeführten klinischen Studien gehe. „Ein wichtiger Baustein für eine effiziente Versorgung der Bevölkerung mit innovativen Arzneimitteln sind klinische Studien“, so Holetschek. Die Arbeitsgruppe unter Federführung des Bayerischen Wirtschaftsministeriums hat dazu in Kooperation mit dem Gesundheits- und dem Wissenschaftsministerium in einem Positionspapier Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen identifiziert. Weigert sagte: „Deutschland ist in der weltweiten Rangfolge zu durchgeführten Klinischen Studien wegen administrativer Hürden und zu wenig Digitalisierung im Gesundheitsbereich inzwischen vom zweiten auf den sechsten Platz zurückgefallen und liegt damit beispielsweise hinter Spanien.“ Um künftig wieder mithalten zu können, wird unter anderem vorgeschlagen, Musterverträge einzusetzen, die Patientenaufklärung zu vereinfachen und eine technische Anbindung der niedergelassenen Ärzte und Krankenhäuser an das System der Prüfzentren vorzunehmen.

All das begrüßt Heinrich Moisa, Vorsitzender der Geschäftsleitung Novartis Deutschland. Er sagte gestern: „Die Pharmaindustrie kann eine wichtige Schlüsselindustrie für Deutschland sein.“ Sie sorge nicht nur für Gesundheit, sondern stärke auch den Forschungsstandort Deutschland, schaffe Arbeitsplätze und stütze den hiesigen Wohlstand. „Das Potential der Schlüsselindustrie Pharma kann aber nur genutzt werden, wenn Gesundheits-, Wirtschafts- und Forschungspolitik konsequent zusammengedacht werden, wie wir es aus Bayern kennen.“ Holetschek rief die Bundesregierung und die Europäische Union dazu auf, die Vorschläge rasch umzusetzen. Denn auch auf EU-Ebene brodelt es derzeit: Am 26. April will die EU-Kommission ihre Vorschläge für eine Reform der Arzneimittelgesetzgebung vorlegen und im Mittelpunkt der Diskussion steht aktuell die Frage, ob es beim Schutz des geistigen Eigentums in Europa Veränderungen geben wird. So sind in dem zuletzt bekannt gewordenen Entwurf Verkürzungen beim Unterlagenschutz vorgesehen.

ALBVVG: Harmonisierung mit dem EU-Pharmapaket

Gestern Abend diskutierte dann auch noch der Verband Pro Generika bei seinem parlamentarischen Frühlingsfest mit der Politik über die Pharmapolitik der Ampelregierung und die Frage: Kann das Lieferengpass-Gesetz die Versorgung stabilisieren? Die Berichterstatterin der Grünen für das Thema Arzneimittel und Haushaltspolitikerin, Paula Piechotta, stellte klar, was aus ihrer Sicht der Kern des geplanten Gesetzes ist: „die Risikominimierung“. Die Kritik der Industrie, dass die geplanten Maßnahmen nicht weit genug gehen würden und nur Kinderarzneimittel und Antibiotika ins Visier nehme, nahm sie zur Kenntnis, verwies in diesem Zusammenhang aber auf die angespannte finanzielle Situation in der gesetzlichen Krankenversicherung und bekam dabei auch Rückendeckung von Georg Kippels, dem Unions-Berichterstatter für das Thema Arzneimittel. Er sagte: „Wir können nicht beliebig viel Geld ins System geben.“ Doch auch wenn die Politik jetzt durch die Arzneimittellieferengpässe unter Zeitdruck gerate, sei es wichtig, zunächst systematisch zu analysieren, warum diese bestehen. „Doch das setzt einen Dialog voraus“, so Kippels.

Änderungen am ALBVVG werde es mit Sicherheit noch geben, versprach Piechotta. Sie wolle zwar der parlamentarischen Debatte zum ALBVVG nicht vorgreifen, deutete aber an, dass das Gesetz noch mit dem geplanten EU-Pharmapaket harmonisiert werden müsse. Sie sagte: „Es ist sehr viel relevanter, was die EU macht.“ Die Kommission schlägt beispielsweise eine Verpflichtung für Pharmaunternehmen vor, Notfallpläne gegen Engpässe zu erstellen. Droht ein Engpass, müssten die Mitgliedsstaaten demnach mindestens sechs Monate vorher informiert werden. 

Andreas Burkhardt, Vorstandsvorsitzender Pro Generika und General Manager Österreich/Deutschland bei Teva ratiopharm, erkennt in dem jetzigen ALBVVG-Kabinettsentwurf jedenfalls keinen großen Wurf. Sein Unternehmen, das im Grunde aktuell den kompletten deutschen Markt mit Paracetamol-Saft für Kinder versorgt, könne mit der Festbetragserhöhung gerade mal kostendeckend produzieren. Dass durch die gesetzlichen Maßnahmen wie erhofft neue Produzenten in den Markt gehen, bezweifelt er sehr.

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