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Cybersecurity

Kolumne Die Kosten der Ignoranz

Die Formen von politisch motivierter Kriminalität sind vielfältig – und sie bedürfen neben der Bestandsaufnahme auch einer tiefgehenden Analyse. Dafür braucht es ein EU-weites Verständnis politisch motivierter Kriminalität, fordern Tim Stuchtey und Paul Glöckner.

Tim Stuchtey

von Tim Stuchtey

veröffentlicht am 31.08.2023

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Ob rechtsextremistische Anschläge auf Asylbewerberheime, linksextremistische Angriffe auf Unternehmen und deren Mitarbeiter, das Verbrennen heiliger Schriften oder die Aufhetzung von Minderheiten zur Destabilisierung einer Gesellschaft durch ihre ausländischen Gegner – all dies sind Fälle politisch motivierter Kriminalität (PMK), die über den tatsächlich verursachten Schaden hinaus einer besonderen Analyse bedürfen. Wenn es zu solchen Straftaten kommt, dann berichten die Medien darüber zumeist sehr ausführlich. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen einzelnen Berichten über Straftaten in den Nachrichten und einer konsistenten und regelmäßigen Aufzeichnung der Taten im Rahmen einer Statistik.

Natürlich gibt es in allen EU-Ländern Statistiken über kriminelle Aktivitäten, aber bei näherer Betrachtung sind diese kaum vergleichbar und berichten (oder berichten eben nicht) über sehr unterschiedliche Tatverhalte. Dies gilt ganz besonders für den Bereich der PMK. Die Unterschiede der Einordnung und der Meldestandards sind mit etwas Hintergrundwissen der kulturellen, historischen und politischen nationalen Unterschiede durchaus nachvollziehbar und erklärbar. Bei allem Interesse an den Hintergründen sollte nach diesem Verständnis eine stärkere Harmonisierung der Kriminalstatistiken angestrebt werden.

Letztlich muss eine immer engere Integration der EU-Mitgliedsstaaten auch ein gemeinsames Verständnis davon beinhalten, was religiöser, rechts- oder linksextremistischer Extremismus oder eine Kampagne ausländischer Einflussnahme sind. Harmonisierte Statistiken sind eine Voraussetzung für eine EU-weite Analyse der dahinter liegenden Phänomene und für deren Bekämpfung. Wohlgemerkt, geht es hier um die Einordnung in bestimmte statistische Kategorien. Denn wie an der innenpolitischen Diskussion über die Bewertung der Straftaten der „Letzten Generation“ erkennbar ist, kann die individuelle Einordnung sehr wohl voneinander abweichen.

Datenbank zu extremistischen Straftaten in Europa

In der wissenschaftlichen Arbeit am BIGS versuchen wir beispielsweise im EU-Projekt FERMI den Zusammenhang zwischen Online-Aktivitäten (wie Social Media) und physischer Kriminalität im realen Leben zu analysieren. Für die Analyse solcher komplexen Zusammenhänge ist ein umfassender und nutzbarer Datensatz von grundlegender Bedeutung. Ein erster Schritt für EU-weit vergleichbare Datensätze auf regionaler Ebene wurde von Eurostat mit der NUTS-Klassifikation (NUTS steht für „nomenclature d'unités territoriales statistiques“) unternommen. Damit wurde eine bis auf die lokale Ebene harmonisierte geografische Gliederung der EU erreicht. Ein ähnlicher Ansatz ist für die Kriminalstatistik notwendig.

Um die Kriminalitätsstatistiken verschiedener Länder zusammen analysieren zu können, muss sich zunächst auf ein gemeinsames Verständnis von Kriminalität und ihren verschiedenen Kategorien geeinigt werden. Dies ist ein komplexes Unterfangen, da Kriminalität ein vielschichtiges soziales Konstrukt ist, das verschiedene Akteure, Netzwerke, Beziehungen, Institutionen, Normen, Gesetze, Symbole und Diskurse umfasst, um nur einige Dimensionen zu nennen. An dem Prozess, der etwas als Straftat definiert, sind viele Akteure beteiligt.

Die politische Motivation von Straftaten erschwert die Analyse zusätzlich, da diese wiederum von der Definition und Abgrenzung der jeweiligen politischen Motivation abhängt. Das Verständnis von Linksextremismus unterscheidet sich beispielsweise von Land zu Land erheblich, was mit den länderspezifischen historischen Hintergründen und sozialen Umständen zusammenhängt. Das bedeutet, dass Kriminalität und verschiedene Kategorien von Kriminalität vom kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft abhängen. Kein Wunder also, dass sich die EU-Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht unterscheiden.

Vielversprechende Datenquellen

In der Europäischen Union gibt es keine zentrale Datenbank, die den politischen Extremismus in den Mitgliedsstaaten auf regionaler Ebene erfasst und die sowohl grundsätzlich verfügbar als auch tatsächlich zugänglich ist. Die Europäische Datenbank terroristischer Straftäter (EDT) ist ein vielversprechender Datensatz, der seit 2012 verurteilte Straftäter enthält. Die Anwendungsfälle beinhalten detaillierte Informationen über die Fälle (etwa Umstände der Kindheit, psychische Probleme, Motive, Risiko- und Schutzfaktoren und weitere). Die Fälle umfassen jedoch auch Personen, die noch nicht verurteilt wurden. Außerdem ist der Datensatz (noch) nicht hinreichend groß, um Zusammenhänge zwischen Straftaten und sozioökonomischen Faktoren auf regionaler Ebene mit statistischen Methoden zu untersuchen. Darüber hinaus hängt dieser Datensatz von den Beiträgen der EU-Mitgliedstaaten ab, die ihrerseits durch ihre Ermittlungskapazitäten eingeschränkt sind, so dass derzeit nur eine begrenzte Anzahl von Anwendungsfällen möglich ist.

Daher stützt sich die Forschung im Bereich der PMK häufig auf einzelne Länderstudien, einzelne Motivations-Kategorien (Couleur) oder gar Einzelfälle von Straftaten, auf Umfragedaten sowie auf die Analyse von Print- und Online-Medienquellen, aber eben nicht auf vergleichende quantitative Studien. Hinzu kommt, dass die Vorstellungen von politischem Extremismus in den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind, was die vergleichende Untersuchung und gemeinsame Bekämpfung weiter erschwert.

Einige EU-Staaten haben Anstrengungen unternommen, um ideologisch motivierte Straftaten kohärenter zu erfassen. In Deutschland beispielsweise sind Daten zur PMK (PDF-Dokument, 27 Seiten) in gewissem Umfang öffentlich zugänglich. Innerhalb der PMK-Statistik wird bei Einordnung der Motivation einer Straftat zwischen links- oder rechts-orientierter, religiöser und ausländischer Ideologie unterschieden. Über diese Couleur-Kategorisierung hinaus werden die wichtigsten Deliktsbereiche (unter anderem Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Sachbeschädigung und Propaganda) ausgewiesen, also neben der Motivation die Natur der Straftat.

Für die PMK-Berichterstattung an das deutsche Bundeskriminalamt sind die Bundesländer mit ihren Landeskriminalämtern zuständig. Auf der Ebene unterhalb der Bundesländer sind die Polizeibehörden jedoch nicht verpflichtet, die Daten zu veröffentlichen. Gleichzeitig fehlt hier oft der Wille der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung. Der Zugang zu PMK-Daten auf NUTS-3-Ebene ist daher derzeit auch für Wissenschaftler nahezu unmöglich.

In Schweden wie auch in anderen Ländern gibt es keine eindeutige Definition der Begriffe „Hasskriminalität“ oder „vorurteilsmotivierte Straftaten“. Es gibt jedoch Straftatbestände, die in irgendeiner Weise in einem Zusammenhang mit diesen gesehen werden können: Aufstachelung zu Hass gegen eine nationale oder ethnische Gruppe, rechtswidrige Diskriminierung und Beleidigung. Ähnlich wie in Deutschland ist es schwierig, detaillierte Daten auf kleinräumigerer Gebietskörperschaftsebene für eine komplexere Analyse zu erhalten.

In einigen Ländern werden Daten zu politisch motivierten Straftaten von den Inlandsnachrichtendiensten erhoben. Diese Daten werden häufig gar nicht oder lediglich in Form von weitgehend qualitativen Berichten veröffentlicht, die sich eher auf exemplarische Einzelfälle oder spezifische Zielgruppen beschränken und keine quantitativen, vergleichenden, länderübergreifenden Analysen ermöglichen.

Auswirkungen auf die Forschung

Die erste Anmerkung betrifft die Forschung innerhalb eines Landes. Da es nicht möglich ist, Analysen auf Ebenen unterhalb der NUTS-1- oder NUTS-2-Regionen durchzuführen, gehen aufgrund der höheren geografischen Aggregation Variation in den Daten eine Vielzahl von möglichen Erkenntnissen verloren – obwohl die Summe der PMK-Delikte identisch bleibt, wird das Bild gewissermaßen pixeliger. Der dominante Linksextremismus in der einen Region wird verdeckt vom Hassprediger in der anderen und umgekehrt. Hinzu kommt die Vermischung mit unauffälligen, friedlichen Regionen.

Eine kleinräumigere Analyse auf Ebene von NUTS-3 führt aufgrund der feineren Auflösung mit mehr geographischen Datenpunkten zu genaueren Schätzwerten für Variablen (zum Beispieil Anfälligkeit für Verschwörungstheorien) und einer verringerten Verzerrung.

US-Daten einfacher zu haben

Die Wissenschaftler müssen außerdem ihre Ressourcen für die Forschung und die Kosten für die Durchführung der Analyse (Zeit, finanzielle Mittel, Erhebung von Datensätzen) abwägen und diese in Relation zum Forschungsziel setzen. Aufgrund der ausstehenden Standardisierung sowie unterschiedlicher und zögerliche Bereitschaft innerhalb der EU bei der Freigabe der PMK-Daten, schränken fehlende oder unvollständige Datensätze die Arbeit europäischer Wissenschaftler stark ein.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie häufig auf US-Daten zurückgreifen, die viel leichter verfügbar sind. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Ergebnisse ihrer vom europäischen Steuerzahler finanzierten Forschung für den finanzierenden geografischen Bezugsraum nur begrenzt übertragbar sind.

Eine weitere Implikation, die mit der geringen Anzahl von Beobachtungen zusammenhängt, ist, dass feingliedrigere geografische Einheiten die Untersuchung komplexerer Zusammenhänge ermöglichen. Die Annahme, dass kreisfreie Städte oder Landkreise (NUTS 3-Ebene in Deutschland) ähnliche oder gleiche Eigenschaften wie Bundesländer (NUTS 2-Ebene) in Bezug auf das Forschungsthema haben, könnte eine zu starke oder sogar falsche Annahme sein und daher die quantitative Analyse behindern.

Schließlich könnten fehlende oder nicht vergleichbare Daten zu irreführenden oder teilweise falschen Ergebnissen führen und sich auf die zu ergreifenden Aktionen und Maßnahmen auswirken.

Politische Sensibilität

Ein letzter Punkt, der bei der geforderten Veröffentlichung von Daten zu politisch motivierter Kriminalität berücksichtigt werden muss, betrifft die Politik und die öffentliche Wahrnehmung. Statistiken über ideologisch motivierte Straftaten haben das Potenzial, bestimmte Landstriche in ein negatives Licht zu rücken, was zu einer Stigmatisierung führen kann.

Vorbehalte von Lokalpolitikern sind in dieser Hinsicht verständlich, wenn man die Auswirkungen des Extremismus (und seiner öffentlichen Wahrnehmung) auf die örtliche Wirtschaft berücksichtigt. Ist eine Region erst einmal für bestimmte extremistische Aktivitäten bekannt, kann eine Abwärtsspirale zu einer immer schlimmeren Situation führen, es sei denn, es werden geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen. Dazu ist es unerlässlich, das Problem zu kennen und richtig zu analysieren. Ganz nach der Weisheit des Managementberaters Peter Drucker gilt auch hier: „If you can't measure it, you can't manage it.“

Warum die Kosten der Ignoranz überwiegen

Obwohl die Argumente für das Fehlen öffentlicher und harmonisierter Datensätze zu extremistischen Straftaten in Europa verständlich sind und eine halbwegs einheitliche Kategorisierung eine Herausforderung darstellt, müssen die EU-Mitgliedstaaten den politischen Nutzen einer Nichtveröffentlichung der Daten gegen die Kosten der Ignoranz abwägen. Die Zunahme des politischen Extremismus in vielen Ländern und Regionen ist mit erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden. In vielen Fällen werden einzelne Vorfälle ohnehin durch die Medien oder über soziale Netzwerke bekannt.

Eine Stigmatisierung von Landstrichen oder Personengruppen ist daher ohnehin wahrscheinlich, auch wenn statistische Daten im Giftschrank bleiben. Im Gegenteil könnte eine methodisch korrekte Analyse unter Umständen zeigen, dass wenige Einzelfälle nicht repräsentativ für eine ganze Region sind.

Aus Sicht der Wissenschaft sind neben dem Fehlen vieler Daten vor allem die Zuverlässigkeit, Validität und Konsistenz der bestehenden Datensätze problematisch. Analysen mit dem Ziel, die Auswirkungen politisch motivierter Straftaten aufzudecken, tragen jedoch dazu bei, Ressourcen für eine effektivere Bekämpfung von Extremismus bereitzustellen und zu steuern.

Trotz der politischen Sensibilität muss PMK öffentlich und nachvollziehbar analysierbar sein. Schließlich ist es uns innerhalb der EU sogar gelungen, trotz aller kultureller Unterschiede eine einheitliche Getränkekategorisierung für Bier, Likör oder Schnaps zu schaffen. Wäre es da nicht an der Zeit, sich auch auf eine Definition der Couleur von PMK zu einigen? Also auf eine gemeinsame Festlegung, unter welchen Voraussetzungen Straftaten als durch eine rechts- oder linksorientierte, eine religiöse oder eine ausländische Ideologie motiviert gelten?

Tim Stuchtey ist geschäftsführender Direktor des Brandenburgischen Instituts für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS).

Paul Glöckner ist Junior Research Fellow am BIGS.

In unserer Kolumnenreihe „Perspektiven“ kommentieren unsere Autor:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit. Zuletzt von Tim Stuchtey erschienen: Russland und die dunkle Seite der Kryptowelt

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