„Die derzeitige Covid19-Krise zeigt, wie wichtig ein kompetenter Umgang mit Daten bzw. den daraus gewonnenen Erkenntnissen ist, um richtige Entscheidungen treffen zu können“, so die Bundesregierung anlässlich der Veröffentlichung der Auswertung der Online-Konsultation zur Datenstrategie. Es wird betont, dass für ein selbstbestimmtes Handeln im digitalen Zeitalter die Fähigkeit immer wichtiger wird, „zu wissen, was Daten sind, zu verstehen, welche Konsequenzen sich aus dem eigenen Umgang mit Daten ergeben, datenbasierte Berichterstattung kritisch hinterfragen zu können“. Doch was heißt das genau und wo stößt datengetriebenes Handeln an Grenzen?
Politik handelt immer mehr datenorientiert, wie wir es aktuell während der Corona-Pandemie deutlich erleben: Sie bewertet die Lage täglich anhand aktueller Infektionszahlen neu und leitet daraus Maßnahmen ab. Daten und Kennzahlen ermöglichen das rationale Durchdringen von Sachverhalten und stellen eine enorme Hilfe für die Rationalitätssicherung dar. In Dashboards und Graphen werden Kennzahlen abgebildet, Zusammenhänge analysiert und zum Teil Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen ermöglicht. Das Wesentliche bei der kennzahlengestützten Rationalitätssicherung ist die Abbildbarkeit von realen Sachverhalten durch Daten. Die Daten bilden allerdings nicht nur Sachverhalte ab, sondern prägen zugleich unsere Realitätswahrnehmung, unser Problembewusstsein und die Prioritätensetzung in der Politik. Die Darstellung der täglichen Corona-Infektionszahlen im RKI-Dashboard machte die Dynamik und die Gefahr eines für den gesunden Menschen unsichtbaren Virus greifbar, weckte das Risikobewusstsein in der Bevölkerung und setzte politische EntscheidungsträgerInnen unter Handlungsdruck.
Ist jeder Sachverhalt durch Kennzahlen abbildbar?
Die Realitätsvermittlung durch Daten prägt unsere Wahrnehmung und das Problembewusstsein. Würde sich ein Dashboard mit täglichen Verkehrstoten-Zahlen auf die Debatte über das Tempolimit auf Autobahnen auf eine gleiche Weise auswirken wie das RKI-Dashboard? Inwiefern bildete die Datenbasis im Corona-Dashboard die tatsächlichen Infektionszahlen überhaupt ab? Sind bestimmte Sachverhalte – wie zum Beispiel „Produktivität“ von ArbeitnehmerInnen – überhaupt durch Kennzahlen objektiv abbildbar? Im letzten Fall wäre die zeitliche Auslastung von MitarbeiterInnen noch messbar – aber wie misst man „Kreativität“, „Innovation“, „Engagement“, „Gewissenhaftigkeit“, „Kollegialität“? Sind solche Sachverhalte überhaupt digital abbildbar? Und falls ja – welche Kennzahlen sollen hier eigentlich als Grundlage für die Messung dienen? Diese Beispiele zeigen, dass der in der Datenstrategie geforderte „kompetente Umgang mit Daten“ ganz konkrete, grundsätzliche Fragestellungen aufwirft:
- Was ist durch Daten abbildbar und wo liegen die Grenzen der Datifizierung?
- Welche Aussagekraft über die Realität haben Daten?
- Wie beeinflussen die Kennzahlen datengestützte Entscheidungen und ab wann wird aus „datengestützt“ „datengetrieben“?
Kompetenter Umgang mit Daten bedeutet einen kompetenten Umgang mit komplexen Sachverhalten. Als „komplex“ gilt ein Sachverhalt dann, wenn er kontextabhängig von unterschiedlichen (zum Teil nicht unmittelbar messbaren) Faktoren und (zum Teil unvorhersehbaren) nicht-linearen Wechselwirkungen abhängt. In komplexen Systemen sind unterschiedliche Bereiche miteinander in einer unterschiedlichen Art und Weise verkoppelt und stehen in vielfältigen Wechselwirkungen zu anderen Systemen. „Komplexitäts-Kompetenz“ ist für die Anwendung von Data Analytics als Entscheidungsunterstützung wichtig, da sie vor der Annahme der naturwissenschaftlichen Beherrschbarkeit eines vermeintlich quantifizierbaren Problems bewahrt, wo es eigentlich um komplexe Sachverhalte mit vielfältigen Interpretations- und Handlungsoptionen geht. Komplexitäts-Kompetenz ist besonders dann wichtig, wenn:
- bestimmte Kennzahlen mit impliziten Wertungen als „objektiv“ gesehen werden (z. B. wenn die Messung der Bildungsqualität bestimmte weltanschaulich bedingte Vorverständnisse des komplexen Sachverhalts „Bildung“ beinhalten);
- die Messung das zu Messende verändert (z. B. wenn „Produktivitätsmessung“ der ArbeitnehmerInnen Stress verursacht und die Arbeitsqualität beeinträchtigt);
- Messergebnisse zum Selbstzweck avancieren (z. B. wenn Klickzahlen nicht mehr Indikator für die Qualität journalistischer Erzeugnisse sind, sondern die Klickzahlengenerierung zum eigentlichen Ziel wird).
Komplexe Sachverhalte dürfen nicht so behandelt werden, als ob sie bloß komplizierte Sachverhalte sind, die auf linearen Wechselwirkungen beruhen. Datengestützte Rationalitätssicherung gelingt daher erst dann, wenn wir das Quantifizierbare messen und das Nicht-Quantifizierbare als nicht messbar behandeln. EntscheiderInnen müssen sich bewusst machen, was durch Daten abbildbar ist und wo die Grenzen der Datifizierung liegen. Um das Potenzial von Daten und Kennzahlen im Sinne der von der Bundesregierung angesprochenen „Datenkultur“ zu nutzen, muss man Datenkompetenz schnell und übergreifend steigern. Man muss das Bewusstsein für die relative Aussagekraft bestimmter Indikatoren schärfen, Transparenz über die Indikatoren-Wahl und deren Begründung herstellen und eine Kultur des pragmatischen Hinterfragens von Kennzahlen etablieren.
Nikolai Horn ist ehrenamtlich Leiter der AG-Ethik des parteipolitisch unabhängigen Netzwerkes Initiative D21 und Projektkoordinator beim unabhängigen Think Tank iRights.Lab. Heute erscheint zudem sein Denkimpuls: „Potenziale und Grenzen des datengestützten Handelns. Was sagen Kennzahlen und Daten (nicht) aus?“