Erweiterte Suche

Gesundheit & E-Health

Tabakentwöhnung „Drogen können Schmiermittel der Gesellschaft sein“

Karl Fagerström
Der schwedische Psychologe Karl Fagerström erfand den nach ihm benannten Test zur Nikotinabhängigkeit. Foto: privat

Karl Fagerström erfand vor knapp 50 Jahren den immer noch gängigen Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit. Heute setzt sich der schwedische Psychologe für sichere Nikotinprodukte ein. Warum er die Neugier junger Menschen als Hindernis für drogenfreie Gesellschaften sieht und warum diese vielleicht gar nicht wünschenswert sind, erzählt er im Interview.

Nantke Garrelts

von Nantke Garrelts

veröffentlicht am 19.09.2023

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Herr Fagerström, Neuseeland will schon in zwei Jahren rauchfrei sein, die EU hat die Vision einer tabakfreien Generation bis 2040. Was hätte der junge Karl Fagerström dazu gesagt, als er 1975 den Abhängigkeits-Test entwickelte?

Die Welt ist aktuell ein sehr interessanter Ort für einen Zigarettenabhängigkeitsforscher. Sie ist endlich an einem Punkt angelangt, wo klar ist, dass man aktiv werden muss. Die schädlichen Auswirkungen von Zigaretten kennen wir schon seit langem. Sie waren bekannt und sie waren immer schon da. Das hat zu strengerer Regulierung und dazu geführt, dass die Tabakindustrie alternative Produkte zur traditionellen Zigarette erfindet und entwickelt. Das halte ich für eine gute Entwicklung, als Arzt ist es Ihr oberstes Ethos, eine Krankheit zu heilen. Aber wenn man die Krankheit nicht heilen kann, dann muss man über Lösungen für diesen Konflikt nachdenken.

Kann es denn überhaupt tabakfreie Gesellschaften geben? Prohibition hat ja keine gute Vorgeschichte.

Die Menschen müssen keinen Tabak konsumieren, wir werden nicht mit dem Bedürfnis nach Tabak oder Nikotin geboren. Aber viele Menschen können oder wollen nicht drogenfrei sein. Wir haben andere Kulturdrogen wie Alkohol oder Koffein, und wir haben Nikotin. Das Problem ist, dass Zigaretten zu Krebs, wie etwa Lungenkrebs oder Krebserkrankungen der Atemwege führen, oder zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie entstehen nicht durch Nikotin, sondern durch die Stoffe, die bei der Verbrennung entstehen. Biochemiker können zum Beispiel Tausende von Substanzen im Tabakrauch nachweisen, nur 60 oder 70 davon sind krebserregend. Das Nikotin selbst ist nicht sehr schädlich. Deshalb sind ich und einige andere Forscher der Meinung, dass wir den Schaden, der durch den Tabakkonsum entsteht, verringern können, indem wir auf Alternativen zurückgreifen. Dass können E-Zigaretten sein, Snus-Tabakbeutelchen für den oralen Gebrauch, oder Pflaster und Kaugummis.

Aber sollen Produkte wie E-Zigaretten oder Snus-Beutelchen ein Übergang für diejenigen sein, die bereits abhängig sind? Oder denken Sie, dass es tatsächlich Möglichkeiten gibt, Nikotin zu konsumieren, die so sicher sind, dass sie erlaubt bleiben sollten? Am Ende ist man immer noch abhängig, also laut ICD-Diagnosehandbuch krank.

Wenn man von Zigaretten auf E-Zigaretten umsteigt, die sie mit den Fingern und Lippen wahrnehmen oder riechen, ist das mehr als das Nikotin. Es ist eine Gewohnheit, ein Ritual. Es ist also keine Überraschung für mich, dass die E-Zigarette als Hilfsmittel zur Raucherentwöhnung beliebter als Pflaster und Kaugummis ist. Es gibt sicherlich auch einen Teil der Konsumenten, der nicht aufhört, die E-Zigarette zu benutzen. Wenn Sie moralisch denken, könnten Sie das als Problem ansehen, vielleicht würden Sie es begrüßen, wenn es überhaupt keine Drogen gäbe. Aber ich finde, man könnte die Diskussion sogar umkehren. Braucht die Gesellschaft eine Aufstockung ihres Maschinenparks? Ist Kaffee vielleicht ein Schmiermittel in der gesellschaftlichen Maschinerie – oder gar Alkohol? 

Aber Alkohol und Tabak verursachen über hunderttausend Todesfälle im Jahr alleine in Deutschland, von den sozialen und psychischen Folgen für das Umfeld ganz abgesehen. Man könnte Drogen auch als Sand in der Maschine beschreiben.

Der Verzicht auf das Rauchen oder Alkohol hat sicherlich positive Auswirkungen, aber der Schaden, den die Gesellschaft durch strikte Verbote erleidet, ist viel größer als der Schaden, der durch den Konsum von sicheren, relativ sicheren Tabakprodukten entstehen würde. Es wurde in den Vereinigten Staaten und in einigen anderen Ländern versucht, ohne Erfolg und mit hohen Gesundheitsschäden etwa durch harten, gepanschten Alkohol.

Sie sind von Haus aus Psychologe. Woher kommt denn dieses Verlangen, wenn wir doch eigentlich nicht damit geboren werden?

Hier steht eine Droge auf dem Tisch (zeigt auf eine Tasse Kaffee). In diesem Fall sind die Nebenwirkungen verschwindend gering im Vergleich zu den Schäden. Ich kann das Bedürfnis nach Drogen verstehen. Wenn ich Schmerzen im Knie habe, nehme ich ein Schmerzmittel, bin wieder arbeitsfähig. Aber wenn ich einen Schmerz in meiner Psyche habe, dann hilft das Schmerzmittel für das Knie nicht. Ich brauche etwas anderes. Und vielleicht reicht Nikotin aus, um etwa Hyperaktivität in den Griff zu bekommen, zum Beispiel. Oder um meinen Appetit unter Kontrolle zu halten und nicht zu dick zu werden. Aber für andere reicht Nikotin nicht aus, sodass sie zu Cannabis greifen müssen. Und für manche Menschen sind die Schmerzen immer noch ein wenig da. Also nehmen sie eine härtere Droge ein. Klar, an diesem Punkt schadet die Droge, aber Stoffe wie Koffein und Nikotin können ein Ausgleich sein. Das ist gut für die Gesellschaft.

Sie sind scharf dafür kritisiert worden, dass Sie mit der Tabakindustrie zusammenarbeiten. Immerhin haben CEOs der großen Tabakkonzerne noch in den Neunzigerjahren im US-Kongress dreist über ihr Wissen über die abhängigmachenden Eigenschaften von Tabak gelogen. Wie vereinbaren Sie das als Wissenschaftler, der im Sinne von Aufklärung und Information arbeitet, mit sich?

Mein Hintergrund ist, dass ich Mitte der siebziger Jahre mit Drogenabhängigen gearbeitet habe. Die sagten, dass es genauso schwierig sei, mit dem Rauchen aufzuhören wie mit Heroin oder anderen harten Drogen. Also eröffnete ich mit Fördermitteln eine Raucherklinik. 1981 habe ich meine Doktorarbeit zu Raucherentwöhnung geschrieben. Damals war ich Berater für ein kleines Pharmaunternehmen, das die Idee hatte, einen Nikotinkaugummi zu entwickeln. 1983 begann ich, als Forschungsleiter für dieses Unternehmen zu arbeiten, entwickelte Nikotinkaugummi, Nikotinpflaster, Nikotinnasenspray und Nikotininhalatoren. Diese Firma wurde von einem US-Pharmaunternehmen aufgekauft, und wir bekamen freie Hand, um wirksamere nikotinhaltige Ersatzprodukte zu entwickeln. Später konnte ich das Interesse einiger Investoren wecken und entwickelte 2005 den ersten tabakfreien Nikotinbeutel, der als medizinisches Nikotinersatzpräparat zugelassen wurde. Außerdem habe ich eine Forschungsklinik gegründet, in der ich klinische Studien für Pharmaunternehmen durchgeführt habe, das hat zu insgesamt 180 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften geführt. Als ich in den Ruhestand ging, dachte ich, dass das Rauchen immer noch sehr präsent ist. In der Welt als Ganzes nimmt es nicht wirklich ab. Das liegt an der Zunahme der Bevölkerung. Es war und ist meine Überzeugung, dass leider nicht jeder Mensch mit dem Rauchen aufhören will oder kann. Und wenn man nicht heilen kann, muss man die Schmerzen lindern. Deshalb versuche ich jetzt aus meinem Ruhestand heraus, die Tabakindustrie dazu zu bewegen, die Zigarettenproduktion aufzugeben.

Sie haben mit einigen Kollegen einen Artikel geschrieben, in dem Sie ihre Haltung begründen. Die Tabakforschung säße zwischen Rinde und Borke, schreiben Sie, denn die von der Tabakindustrie beschäftigten Wissenschaftfler:innen werden nicht ernstgenommen und die, die mit Geldern der Industrie unabhängig forschen, gelten ebenfalls als gekauft oder ihr Name gilt als verbrannt. Was wäre denn ein Forschungsfinanzierungsmodell für die Tabakforschung, das dieses Problem umgehen könnte?

In den USA hat die Food and Drug Administration (FDA) eine eigene Tabakabteilung, die Gelder von der Industrie einsammelt und an die Tabakforschung verteilt. Dafür muss die Industrie natürlich hohe Summen aufbringen. Aber das Geld kommt von der Tabakindustrie, es wird von der FDA gewaschen und dann in die Forschung gegeben.

Sie sagen „gewaschen“, das hört sich nach einer kriminellen Aktivität durch eine staatliche Regulierungsbehörde an. Sind Sie gegen so ein System?

Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht. Es hätte schon Vorteile, wenn man etwa Nikotinersatzprodukte wie tabakfreie Beutelchen als nicht-verschreibungspflichtige Medikamente zulassen könnte. Dann könnte man auch Werbung dafür schalten und die Menschen so zu einer gesünderen Konsumart bringen, denn aktuell ist Werbung für solche Produkte ja komplett verboten. Mein Rat an die Tabakindustrie: Sie haben die Mittel und das Geld, um die notwendigen Tests für diese Produkte durchzuführen, damit sie als Arzneimittel zur Reduzierung des Rauchens oder zur Einstellung des Rauchens zugelassen werden können. Wobei die Regeln für diese Produkte sehr streng sind. In Großbritannien etwa hat man Nikotin so reguliert, dass neue Nikotinprodukte weniger Bedingungen erfüllen müssen als ein Medikament. Würde man diesen Weg auch in der EU gehen, könnten Produkte, die nur Nikotin enthalten, aber keine anderen Tabakinhaltsstoffe, die bei Verpuffung schädlich sind, schneller und einfacher zugelassen werden.

Werbung für Nikotinprodukte wieder einzuführen – das ist wohl eine Idee , die weder die EU noch Länder wie die USA oder Neuseeland so bald annehmen werden. Dadurch würden Nicht-Konsument:innen zum Suchtstoff gebracht, könnte das Gegenargument lauten.

Dazu braucht es ein Regulierungssystem, das das so weit wie möglich verhindern kann. Ich wage mich so weit vor, zu sagen, dass es immer Jugendliche geben wird, die neugierig sind auf Suchtstoffe, die Alkohol ausprobieren wollen oder eben Cannabis. Wenn die jungen Menschen nicht so eine Toleranz für diese Stoffe und so eine Neugier hätten, wären diese Substanzen längst aus unseren Gesellschaften verschwunden. Es braucht also eine Regulierung, die die Balance hält zwischen dem Angebot möglichst risikoarmem Substanzen und den Beschränkungen. Das ist zum Beispiel in Schweden der Fall: Hier wurde der Steuersatz für Nikotinbeutel jüngst um 20 Prozent gesenkt, während man auf Rauchtabak mehr Steuern zahlen muss.

Karl Fagerström (*1946) studierte klinische Psychologie in Uppsala, Schweden, und entwickelte als Abschlussarbeit den Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit. In den Siebziger- und Achtzigerjahren arbeitete er mit Nikotinabhängigen und promovierte mit seinen Forschungsarbeiten zur Nikotinabhängigkeit. 1999 bekam Fagerström eine Medaille der WHO für herausragende Arbeit in der Tabakkontrolle verliehen. 

Interview: Nantke Garrelts.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen