Gut drei Jahre nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Indien verschwimmen langsam die Bilder. Sie stammen aus jenen Tagen, an denen täglich 400.000 Menschen neu an der Virusinfektion erkrankten, 2000 neue Todesfälle pro Tag zu verzeichnen waren und das Land buchstäblich händeringend nach Sauerstoffkonserven suchte – das Gesundheitssystem also fast vollständig vor dem Kollaps stand. Inzwischen ist etwas Ruhe eingekehrt, seit März sind die meisten Grenzen zwischen den indischen Bundesstaaten wieder offen. Nur noch vereinzelt sind Inder mit Masken auf den Straßen zu sehen. Die Impfquote liegt bei mehr als 60 Prozent.
Besonders stolz auf diese Quote ist der Wissenschaftler N.K. Arora. Er steht der indischen COVID-19-Taskforce vor – einer Sondereinheit unter der Nationalen Technischen Beratergruppe für Immunisierung (NTAGI) der Regierung. Seit August 2020 arbeitet die Einheit aus unabhängigen indischen Experten unter Hochdruck daran, Empfehlungen herauszugegeben, wie vorzugehen ist. „Indien hat so viele Pandemien während des letzten Jahrhunderts erleben müssen – darunter die Pest, Cholera, Polio oder Influenza“, sagt Arora. Erinnerungen daran seien noch immer „bei vielen von uns präsent“. Auch deshalb seien die allermeisten bislang bereit gewesen, sich ohne Widerstand impfen zu lassen. Wer in Indien eine Möglichkeit erhalte, nicht zu erkranken, der ergreife sie, ergänzt seine Kollegin Pavithra Venkatagopalan, die bereits Jahre vor Ausbruch der Pandemie zu Coronaviren forschte.
Um der Pandemie schrittweise Herr zu werden, waren verschiedene Herangehensweisen notwendig, erklärt Arora. Zunächst passte Indien die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) – völkerrechtlich bindende Vorschriften der Weltgesundheitsorganisation zur Bekämpfung und Verhütung der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Krankheiten – an „indische Realitäten“ an. Sprich: Es wurden Strategien zur Eindämmung des Virus entwickelt – auf Ebene der Städte, im sub-urbanen Bereich und für die Dörfer. Letzteres beschreibt Arora als besonders herausfordernd – in Indien gibt es 600.000 Dörfer und kleine Gemeinden. Mit Hilfe von Selbsthilfegruppen und der lokalen Selbstverwaltung dort, dem sogenannten Panchayat-System, ließen sich Strategien für verschiedene Bevölkerungsgruppen entwickeln.
Aufklärung spielte zentrale Rolle
„Dieser gemeindebasierte Ansatz hilft besonders bei der Aufklärung der Menschen“, erklärt Kanupriya Singhal, Gesundheitsexpertin des Kinderhilfswerks UNICEF aus Lucknow, Uttar Pradesh. UNICEF hatte bereits im Zuge der Ausrottung des Poliovirus ein Netzwerk an Sozialen Mobilisatorinnen entwickelt – Frauen aus der Gemeinde (ASHAS), die jeden einzelnen Haushalt über die Bedeutung der Polioimpfung informiert haben. Nach 2011 – dem Jahr, in dem Indien offiziell poliofrei wurde – lag der Schwerpunkt der ASHAS darauf, nicht nur über Polio und andere notwendige Impfungen, sondern auch über Hygiene und richtige Ernährung aufzuklären. Dieses Netzwerk spielte für die COVID-19 Aufklärung eine bedeutende Rolle, erklärt Singhal. „ASHAS informierten die Haushalte über Gefahrenzeichen bei COVID-19, darüber, wie sie sich isolieren, und fragten nach, ob ihnen während der Isolation Medikamente oder Sauerstoff fehlte“, so die Expertin.
Foto: Sitzen, warten, Hoffen auf Öffnung: Bewohner des DMRC Old—Age-Homes in Delhi.
Neben Regierung und Internationalen Organisationen spielen auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine große Rolle – heißt es bei HelpAge India. Vor allem ältere Menschen litten unter den Folgen der Pandemie, denn trotz zahlreicher chronischer Erkrankungen konnten sie keine Ärzte mehr aufsuchen, berichtet Ritu Rana, Leiterin der Gesundheitseinheit der NGO. Alles blieb während der ersten beiden COVID-19 Wellen geschlossen. Selbst große Krankenhäuser beschränkten ihre Versorgung auf die Behandlung von COVID-19-Patienten. HelpAge bietet seither Hotlines für ältere Menschen mit psychischen Problemen an – viele litten während des Lockdowns unter Ängsten und Depressionen. Darüber hinaus ruft die Organisation Haushalte mit Infizierten an, um zu erfahren, was diese brauchen. Dazu kommen seit gut einem Jahr Videosprechstunden – ein Weg, auf den die Organisation auch während er erwarteten, vierten COVID-19 Welle im Sommer dieses Jahres setzt.
Doch trotz guter Ansätze und dem Einsatz verschiedener Akteure: Der Masse an älteren, schwachen und bereits erkrankten Menschen konnte nicht geholfen werden. Mohan Raj, Betreiber eines häuslichen Pflegedienstes in Südindien, musste zusehen, wie mehr und mehr Haushalte Unterstützung für ihre älteren Angehörigen suchten. „Wir konnten unsere Arbeitskräfte aber kaum halten, da die meisten Inderinnen diese Art der Arbeit nicht lange machen wollen“, erzählt der Jungunternehmer. Trotz einer wachsenden älteren Bevölkerung Indiens fehlt bislang die Infrastruktur in Form von Arbeitskräften, spezialisierten Ärzten, Altenheimen sowie ambulanten Pflegediensten fehlt dem Land bislang – und das bei geschätzt 320 Millionen Menschen über 60 im Jahre 2050 (bei einer erwarteten Gesamtbevölkerung von 1,69 Milliarden). Zwar steigt die Zahl an Altenheimen laut HelpAge India an, sowohl für arme Ältere als auch für diejenigen mit Geld. Die meisten Ärmeren möchten aber nicht in diese Einrichtungen, auch wenn die Alternative ein Leben der Ablehnung auf der Straße ist.
Altenheime blieben geschlossen
Im „St. Joseph S Prashanth Nivas“ in Mangalore, einem christlichen Altenheim mit 300 Bewohnern im Alter von 40 bis 90 Jahren, mussten die Tore bis März 2022 pandemiebedingt geschlossen bleiben. „Selbst die wenigen Bewohner, die sonst ab und zu Besuch bekommen, mussten darauf verzichten“, beschreibt Schwester Dorothy die COVID-19-Vorschriften. Den Bewohner:innen, die nicht geistig verwirrt sind oder unter Demenz leiden, hat dieses Einsperren sehr zugesetzt. „Ich hatte das Gefühl, hier drin keine Luft mehr zu bekommen, ich konnte nicht wirklich verstehen, was eigentlich passiert“, beschreibt Shirley Mascarenhas die Zeit der Isolation.
Foto: Bis März blieben die Tore des St. Joseph S Prashant Nivas Old Age Homes in Mangalore geschlossen.
Alleingelassen fühlte sich auch die Inderin Corrine Antoinette Rasquinha. Sie betreibt das „White Doves Psychiatric and Destitute Home“ – eine Einrichtung für Mittellose und psychisch kranke Menschen in derselben Stadt. 136 Menschen haben hier ein Zuhause gefunden. Außer Obdachlose mit Essen zu versorgen, habe die Regierung nichts weiter gemacht, kritisiert die Inderin. Ärzte hätten keine Hilfe angeboten, aus Angst sich mit dem Virus zu infizieren. So zog sich die Frau selbst Handschuhe und Schutzmaske auf, um die vielen Menschen auf der Straße mit Essen und Medizin zu unterstützen.
Für Arora, den Vorsitzenden der COVID-19 Taskforce, zählt in erster Linie die Impfquote. Dem Ziel der Durchimpfung komme man schrittweise näher, glaubt der Wissenschaftler. Auf die nächste Welle sei sein Land dann weitaus besser vorbereitet als noch im Jahr 2000. Martina Merten
Die Recherche der Autorin wurde durch ein Stipendium des „European Journalism Centre“ durch den so genannten „Global Health Security Call“ ermöglicht.