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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Lauter ungedeckte Schecks

Anke Schlieker, Projektleiterin Gesundheitsversorgung beim Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV)
Anke Schlieker, Projektleiterin Gesundheitsversorgung beim Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) Foto: PKV

Im Gesundheitsministerium werden derzeit so viele Gesetze vorbereitet wie lange nicht: Krankenhausreform, Pflegereform und Versorgungsgesetze für den ambulanten und kommunalen Bereich. Gesundheitskioske sind trotz aller Kritik im Vorfeld weiter auf der Vorhabenliste. Anke Schlieker vom PKV-Verband hält das für falsch und fordert eine Bündelung und Vernetzung bestehender Angebote statt des Aufbaus neuer Strukturen. Die Interessen der Versicherten gerieten aus dem Blick, warnt sie.

von Anke Schlieker

veröffentlicht am 20.03.2023

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Es wird wohl Frühjahr werden, bis uns das erste Versorgungsgesetz erreichen wird. Die Eckpunkte des Ministeriums dafür sind in der ersten Arbeitswoche des neuen Jahres in Form einer Spiegelstrichliste an ausgewählte Pressevertreter gegeben worden. Es sind große Vorhaben, die uns da für die ambulante und kommunale Versorgung ankündigt werden.

Als Zuschauerin kann man den Eindruck gewinnen, es wird gerade unser Gesundheitssystem ganz neu geplant und aufgesetzt. Denn parallel läuft ja auch noch die Krankenhausreform. Das Gesetz soll ebenfalls bis Sommer vorbereitet werden, als gemeinsames Projekt von Bund und Ländern. Schließlich ist es im Bundesrat zustimmungspflichtig.

Nun also nicht nur stationär, sondern auch ambulant. Und zwar alles: Medizinische Behandlung und Prävention, die in kommunalen Gesundheitszentren und Primärversorgungszentren stattfinden soll. Gesundheitskioske, die neu gegründet werden sollen. Und Medizinische Versorgungszentren, bei denen Restriktionen für Investoren geplant sind. Auch fremdsprachliche Übersetzungen medizinischer Sachverhalte soll es geben sowie neu geplante Gesundheitsregionen. Und noch etliches mehr.

Auch wenn einige Teilbereiche durchaus Sinn ergeben und das Potenzial haben, Probleme in strukturschwachen Regionen zu lösen, so ist doch klar, dass alle Vorhaben zusammen hochkomplex sind. Und dass ihre Umsetzung sehr, sehr teuer wird. Dies alles in einer sehr volatilen Zeit der Umbrüche, in der absehbar ist, dass in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht mehr, sondern weniger Geld zur Verfügung stehen wird. Einer Zeit mit der höchsten Inflation seit dem Zweiten Weltkrieg und einer Staatsverschuldung auf Rekordniveau.

Fragwürdige Gesundheitskioske

Mit in der Vorhabenliste aufgeführt sind die Gesundheitskioske, zu denen es im September 2022 viel Widerstand gegeben hatte, nachdem der Minister beim Besuch eines Hamburger Pilotprojekts überraschend den Aufbau von bundesweit 1.000 Kiosken angekündigt hatte. Das war ein schlechtes Timing, denn gleichzeitig wurde ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz durch die Gremien gepeitscht, das den GKV-Versicherten die höchsten Beiträge seit Bestehen der gesetzlichen Krankenversicherung beschert. Sie betragen in diesem Jahr bis zu 978 Euro pro Monat (Gesamtbeitrag Kranken- und Pflegeversicherung). Auch deswegen hatten in der Folge mehrere Ersatzkassen ihren Ausstieg aus der Finanzierung des Hamburger Gesundheitskiosk-Projekts angekündigt. Das Modell steht damit finanziell vor dem Aus, nachdem auch die Stadt Hamburg diese Lücke nicht füllen will.

Die Kritik richtete sich aber nicht nur gegen das geplante Finanzierungsmodell (80 Prozent der geplanten Kosten sollen die Versicherten der GKV und PKV zahlen, 20 Prozent die Länder), sondern auch gegen die Inhalte. Denn die Kioske leisten nichts, was es nicht schon gibt. Die Angebote werden nur besser vernetzt und sollen leichter aufzufinden sein. Ein Großteil der Services betrifft zudem behördliche Beratungsangebote, welche die verschiedenen Ämter vor Ort schon bereithalten (Jugendamt, Versorgungsamt, Gesundheitsamt, Sozialamt, Arbeitsamt, Integrationsstellen und andere). Niemand hindert diese Behörden, ihre Services besser miteinander zu koordinieren. Deshalb ist es sehr fraglich, weshalb die Krankenversicherten dafür zusätzlich zahlen sollen. Wenn der Staat meint, die Kioske unbedingt einrichten zu müssen, müssen sie aus Steuermitteln getragen werden. Darin sind sich die Kostenträger in GKV und PKV einig. Wer bestellt, der bezahlt. Sollte man meinen. Gegen diesen bewährten Grundsatz zu verstoßen, würde der Gesundheitsversorgung nicht guttun.

Auseinandersetzung mit der Kritik? Fehlanzeige.

Nun sind die Protagonisten im Gesundheitswesen nicht so naiv zu glauben, dass aufgrund ihrer Wortmeldungen ein mit Tamtam öffentlich angekündigtes Vorhaben sofort eingestampft wird. Aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Standpunkten und Argumenten hätte man erwarten können. Dies hätte möglicherweise zu einem konstruktiven Austausch geführt, wie man die angedachten Ziele besser erreichen könnte – ohne zusätzliche Kosten und den Bau neuer Strukturen neben den längst bestehenden.

Bei den Gesundheitsausgaben ist Deutschland Nummer eins in der europäischen Union und Nummer drei weltweit, nach den USA und der Schweiz. Da sollte man erwarten, dass der Staat verantwortlich und sorgfältig mit der Erzeugung neuer Kosten umgeht. Dass er zuerst schaut, wo man einsparen und effizienter bündeln kann. Und dass er dafür sorgt, seine Bürgerinnen und Bürger nicht zu überfordern.

Diesen Eindruck vermittelt die Regierung leider nicht. Es wird weiter geplant und umgesetzt; alle Vorhaben, die man sich in der Koalition so vorgenommen hatte. Und weil der Bundeshaushalt offenkundig keine zusätzlichen Schulden mehr verkraftet, suchen die Beteiligten nun nach Schlupflöchern, um andere Quellen anzuzapfen. Es ist illusorisch anzunehmen, dass der Bundesfinanzminister mehr Geld lockermacht. Ebenso klamm sind die Länder. Deswegen ist gar vorgesehen, dass sie ihren (geringen) 20 Prozent Finanzierungsanteil bei den Gesundheitskiosken auch in Form einer „Muskelhypothek“ erbringen können sollen, also durch die Bereitstellung von Räumen oder Personal. Diejenigen aber, die den größten Teil der Rechnung zahlen müssen, werden gar nicht erst gefragt.

Interessen der Beitragszahler

Die Kostenträger in GKV und PKV treten hier als Anwälte ihrer Versicherten auf. Sie fühlen sich dafür verantwortlich, sinnvoll mit Beitragsgeldern umzugehen und Kosten nicht weiter steigen zu lassen. Sie sind die Interessenorganisation für die Belange der Beitragszahler. Diese Versicherten bilden die Solidargemeinschaft im dualen Krankenversicherungssystem.

Zurück zur großen Spiegelstrichliste des Gesundheitsministers: Hier muss die Frage erlaubt sein, in welche Richtung denn der Umbau unseres Gesundheitssystems erfolgen soll. Was ist der Plan dahinter? Wie soll das Bild aussehen, wenn es fertig ist? Es gibt so viele gleichzeitig angekündigte Reformvorhaben, dass sie vor den Augen verschwimmen. Neben der Kranken- steht auch die Pflegeversicherung mal wieder auf der Agenda. Dort laufen aufgrund der Leistungsausweitungen der letzten Jahre bereits die Kosten aus dem Ruder. Ein Milliardendefizit staut sich auf. Trotzdem sind weitere Dynamisierungen vorgesehen, als gäbe es kein morgen. Das wird die Beiträge absehbar noch weiter steigen lassen. Ist das seriöses und nachhaltiges Regierungshandeln, Leistungen auszuweiten, ohne dass zuvor die finanziellen Spielräume überhaupt zur Kenntnis genommen wurden?

Müsste man nicht vielmehr innehalten und überlegen, ob alle diese Reformen jetzt nötig sind? Wie sie ineinandergreifen? Und wie sie gleichzeitig bei angespannter Wirtschaftslage und massivem Rückstau in der Digitalisierung gut und effektiv umgesetzt werden können? Ob sie sich finanzieren lassen? Jede Unternehmenschefin, jeder Chef weiß, dass nicht alles gleichzeitig geht. Dass man Prioritäten setzen muss, weil es begrenzende Faktoren wie Personal, Zeit, Geld gibt. Wie kann die Politik glauben, dass diese Grundsätze soliden Arbeitens für sie nicht gelten?

Augen zu und durch?

Immer dringender stellt sich die Frage, ob es richtig ist, an allen Punkten des Koalitionsvertrags festzuhalten. Er ist eine Wunschliste, die alles Mögliche versammelt, was die drei Regierungsparteien schon immer mal gefordert hatten und auf was sie sich gemeinsam einigen konnten. Vor dem Ukrainekrieg. Vor der Inflation. Vor der sich abzeichnenden Rezession. Wenn wir jetzt nicht darauf reagieren, wann denn dann?

Das umlagefinanzierte deutsche Solidarsystem steht vor enormen Herausforderungen. Es wird in wenigen Jahren durch den Renteneintritt der Babyboomer-Generation mehr Leistungsempfänger im Renten- und Krankenversicherungssystem, aber weit weniger Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben.

Da ist es dringend erforderlich, jetzt einen radikalen Kassensturz zu machen. Die Zeit zu nutzen für den Bürokratieabbau, von dem immer alle reden. Wir müssen über die bestehenden Leistungen reden und schauen, ob diese effizient erbracht werden, wie sie besser vernetzt und welche Synergien genutzt werden können. Wir brauchen vieles, aber keine Doppelstrukturen und keine unnötigen Zusatzkosten.

Dr. Anke Schlieker ist Projektleiterin Gesundheitsversorgung beim Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV).

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