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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Anpfiff – nicht nur für die Fußball-EM

Andreas Gerber ist Vorsitzender der Geschäftsführung von Janssen
Andreas Gerber ist Vorsitzender der Geschäftsführung von Janssen

Mit dem AMNOG-Verfahren und dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sehen sich die forschenden Pharmaunternehmen mehreren Hemmschuhen ausgesetzt. Gleichzeitig lassen positive Anreize auf sich warten, schreibt Janssen-Deutschlandchef Andreas Gerber. Er wünscht sich ähnlichen Tatendrang wie bei der Vorbereitung der EM.

von Andreas Gerber

veröffentlicht am 10.06.2024

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„Wir werden die (…) Fußball-Europameisterschaft der Männer 2024 (…) unterstützen (…)“, heißt es auf Seite 90 des Koalitionsvertrages. Gesagt, bzw. geschrieben – getan: die Vorbereitungen für das Sportevent des Jahres sind auf der Zielgeraden. Als Fußballfan finde ich das natürlich gut. Als Geschäftsführer eines forschenden Pharmaunternehmens würde ich es begrüßen, wenn die Umsetzung der ebenfalls im Koalitionsvertrag verankerten Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland mit derselben Leidenschaft vorangetrieben würde. „Wir ergreifen Maßnahmen, um die Herstellung von Arzneimitteln (…) nach Deutschland (…) zurückzuverlagern“, ist auf Seite 68 des Koalitionsvertrags zu lesen.

Ich verstehe, dass es mehr Freu(n)de macht, eine EM im eigenen Land vorzubereiten, als sich mit den Rahmenbedingungen für forschende Pharmaunternehmen auseinanderzusetzen. Ungeachtet des unterschiedlichen Spaßfaktors darf Letzteres jedoch nicht aufgeschoben werden. Mit Investitionen von mehr als 9,6 Milliarden Euro pro Jahr treibt die deutsche Pharmaindustrie die Entwicklung neuer Arzneimittel und Therapien maßgeblich voran. Sie ist unverzichtbar – für die Gesundheit der Menschen und für den Wirtschafts- und Innovationsstandort.

Weit entfernt von der Zielgeraden

Mit der Pharmastrategie hat die Bundesregierung begonnen, ihr im Koalitionsvertrag verankertes Versprechen umzusetzen. Das Ziel ist, den Pharmastandort und die Arzneimittelversorgung in Deutschland zu stärken. Indem Erforschung, Entwicklung und Produktion erleichtert werden, sollen Patient:innen Zugang zu mehr medizinischen Innovationen „made in Germany“ erhalten. Anders als bei der EM ist die Zielgerade allerdings noch lange nicht in Sicht.

Die mit dem Medizinforschungsgesetz angestrebte Erleichterung der klinischen Entwicklung von Medikamenten ist wichtig. Schließlich geht es darum, Patient:innen frühzeitig Zugang zu unter Umständen lebensrettenden medizinischen Innovationen zu ermöglichen. Es geht darum, Mediziner:innen die Möglichkeit zu geben, moderne Therapien mitzugestalten. Nicht zuletzt geht es darum, die globalen Headquarters forschender Unternehmen davon zu überzeugen, wieder vermehrt Studienbudget in Deutschland zu investieren.

Um den Pharmastandort Deutschland nachhaltig attraktiv zu machen, reicht das jedoch nicht aus. Forschende Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass sie die Innovationen, in deren Entwicklung sie im Durchschnitt 14 Jahre lang investieren, schnellstmöglich und zu fairen, das heißt wirtschaftlichen Bedingungen in den Markt einführen können. Das erfordert stabile Marktzugangsbedingungen, die den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse spiegeln und eine Erstattung, die sich am Wert der neuen Therapien orientiert.

Gefahr für die Patientenversorgung

Genau daran hapert es. Die mit dem GKV Finanzstabilisierungsgesetz (GKV FinStG) eingeführten AMNOG-Preisleitplanken und pauschalen Kombirabatte machen es nahezu unmöglich, Erstattungspreise auszuhandeln, die den Wert neuer Medikamente für Patient:innen abbilden. Einen wettbewerbsfähigen Innovationsstandort mit einem Gesundheitssystem, in dem die Versorgung mit innovativen Arzneimitteln und Impfstoffen sichergestellt ist (siehe Koalitionsvertrag), erreichen wir damit nicht.

Im Gegenteil. Eine Auswertung des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) zeigt: Fünf versorgungsrelevante Arzneimittelinnovationen stehen aufgrund des GKV FinStG in Deutschland aktuell nicht zur Verfügung, darunter ein Arzneimittel, das von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA als bahnbrechende Therapie eingestuft wurde. Vierzehn Arzneimittel können absehbar verzögert oder gar nicht in den deutschen Markt eingeführt werden, in den kommenden zwei Jahren könnten es bis zu 30 sein. Nicht ohne Grund fordern Vertreter:innen aus Pharmaindustrie, Verbänden und Opposition, diese Regelungen schnellstmöglich zurückzunehmen.

Verlässlicher Marktzugang ist entscheidend

Entscheidender Hebel für einen wettbewerbsfähigen Innovationsstandort Deutschland und damit für den Erfolg der Pharmastrategie ist die Modernisierung des mittlerweile 13jährigen AMNOG. Ich beobachte mit wachsender Sorge, dass Therapien, die darauf abzielen, die Entstehung oder das Fortschreiten einer Erkrankung im Sinne einer Disease Interception zu unterbrechen oder zu verhindern oder Erkrankungen möglichst maßgeschneidert zu behandeln, es zunehmend schwer haben, in die Versorgung zu gelangen – und damit zu den Menschen, die dringend darauf warten. Das Ziel der Reform muss ein System sein, das in der Lage ist, neue Medikamente und Therapieansätze, etwa im Bereich der Gen- und Zelltherapien, angemessen zu bewerten.

Dafür braucht es die Anerkennung neuer, patientenrelevanter Endpunkte – und neuer Studiendesigns: Randomisierte klinische Studien (RCTs) gelten völlig zu Recht als Goldstandard, denn sie bieten die höchste Stufe der Evidenz. Ihre Durchführung ist jedoch nicht immer möglich oder aus ethischen Gründen geboten. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn schon früh in der Entwicklung deutlich wird, dass Patient:innen in besonderem Maße von einer neuen Therapie profitieren können, so dass ein beschleunigter Zugang auf Basis der vorliegenden Evidenz (also ohne RCTs) geboten erscheint. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) stuft die von den Herstellern vorgelegten Studien niedrigerer Evidenz jedoch regelmäßig als nicht verwertbar ein. Konsequenz: kein Zusatznutzen. Die Verhandlung eines fairen, das heißt wertbasierten Erstattungspreises ist auf dieser Basis nicht möglich.

Der Countdown läuft – nicht nur für die Fußball-EM. Der Pharma- und Innovationsstandort Deutschland darf nicht auf der Ersatzbank geparkt werden. Es steht viel auf dem Spiel: unser Wohlstand, unsere Wettbewerbsfähigkeit – und die Gesundheit unzähliger Menschen.

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