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Cybersecurity

Kolumne Wer ist digitale Souveränität und wenn ja, wie viele?

Das Schlagwort der digitalen Souveränität hat viele Facetten – je nachdem wer über sie spricht. Dabei braucht ein ganzheitliches Verständnis nicht nur Aspekte wie Technologie und Digitalisierung, sondern auch Sicherheit und Geopolitik. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, fordert Alexander Szanto.

Alexander Szanto

von Alexander Szanto

veröffentlicht am 01.09.2022

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Die digitale Souveränität Deutschlands und Europas wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Von Debatten über eine europäische Emanzipierung vom „Überwachungskapitalismus“ der US-amerikanischen Big Tech Unternehmen, über Debatten zur Schaffung von Rahmenbedingungen die eine sichere, vertrauenswürdige und wettbewerbsfähige europäische Dateninfrastruktur ermöglichen, Stichwort GAIA-X, bis hin zu Debatten zum Aufbau einer Daten- und Kommunikationsinfrastruktur, die nur auf vertrauenswürdige Komponentenhersteller setzt, Stichwort 5G. Und schließlich haben die COVID-19 Pandemie sowie der russische Krieg gegen die Ukraine deutlich gemacht, dass strategische Abhängigkeiten uns wirtschaftlich und vor allem auch politisch, teuer zu stehen kommen können.

Diese seit etlichen Jahren köchelnden Debatten zeigen, wie schwer greifbar digitale Souveränität ist, dass je nach Blickwinkel, Interessen und Intentionen, die Schwerpunkte anders gelagert sind und der Begriff anders gedeutet werden kann. Aus einer sicherheitspolitischen Perspektive und mit Blick auf die geopolitischen Verwerfungen der vergangenen Monate ist eine klar umrissene Digitalstrategie notwendig, um Abhängigkeiten in strategisch wichtigen Bereichen zu identifizieren und zu reduzieren. Bisher ist das auf der wirtschaftspolitischen Ebene nur unzureichend geschehen. Das Ziel muss sein, die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit zu vergrößern, da in einer zunehmend digitalisierten Welt Abhängigkeiten immer bestehen werden. Sie sollten nur nicht einseitig sein und möglichst eine gemeinsame Wertebasis teilen.

Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft korreliert mit dem Digitalisierungsgrad

Wettbewerbsfähigkeit speist sich aus der Innovationskraft der eingesetzten digitalen Technologien, die zunehmend (ausschließlich) datengetrieben sind. Genau hier drückt der Schuh in Deutschland und Europa. Das European Center for Digital Competitiveness, ein in Berlin ansässiges Institut, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die digitale Wettbewerbsfähigkeit in die politische und öffentliche Debatte einzubringen, hat im Digital Riser Report 2021 die digitale Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen drei Jahren von Ländern weltweit untersucht. Innerhalb der G20 ist Deutschland auf dem siebzehnten und innerhalb der G7 auf dem vorletzten Platz, vor Japan. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten zeigt sich auch bei der digitalen Transformation. Frankreich und Italien haben Fortschritte bei der Stärkung ihrer digitalen Wettbewerbsfähigkeit machen können, Deutschland ist weiter zurückgefallen. Für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist das eine ernüchternde Analyse.

Während einerseits diese Wettbewerbsnachteile seit Jahren beklagt werden und zur Erstellung von etlichen Vorhabens-Papieren geführt haben, in denen auch Ziele definiert wurden, fehlen andererseits die Umsetzungsinstrumente und die klaren politischen Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten. Die neue Digitalstrategie der Bundesregierung, die heute vorgestellt und verabschiedet wurde, gibt zwar diesmal messbare Ziele aus, allerdings bleibt abzuwarten, wie konkret diese auf allen Ebenen umgesetzt werden können.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird angemerkt, dass ein wertebasierter, digitaler Aufbruch der Deutschland einen starken Technologiestandort und die digitale Souveränität sichert, nur in einem fortschrittlichen europäischen Rahmen gelingen kann. Digitale Souveränität soll durch das „Recht auf Interoperabilität und Portabilität sowie das Setzen auf offene Standards, Open Source und europäische Ökosysteme, etwa bei 5G oder KI“, gestärkt werden. Des Weiteren heißt es dort, dass die technologische Souveränität eins von sechs zentralen Zukunftsfelder ist, die durch eine starke Wissenschafts- und Forschungspolitik gefördert werden soll.

Die Europäische Kommission hat diesen Weg mit dem Politikprogramm 2030 für die digitale Dekade zur Förderung des digitalen Wandels in Europa bereits im Jahr 2021 skizziert. Die im Digitalen Kompass 2030 definierten Ziele und Vorgaben, wie etwa die Schaffung digitaler Kompetenzen und redundanter Infrastrukturen, sollen mit der Maßgabe, die Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität Europas zu stärken, erreicht werden.

Während dieser neuralgische Punkt von der deutschen und europäischen Politik scheinbar erkannt und zum Teil auch mit Zielvorgaben bedacht wurde, bleibt nach wie vor unklar, wie Deutschland und Europa digitale Souveränität in der Praxis verwirklichen will.

Was verstehen wir überhaupt unter digitaler Souveränität?

Dazu müsste zunächst definiert werden, welche Bereiche der Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft essenziell für eine funktionierende, liberale Demokratie sind. Eine Kategorisierung müsste wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte berücksichtigen, definieren welche Technologien zu den kritischen Schlüsseltechnologien – die für die Funktionstüchtigkeit der Wirtschaft (Infrastruktur), Politik und Gesellschaft wesentlich sind – zählen und zuvor die Ausgangslage feststellen.

Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim hat im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie solch eine Bestandsaufnahme vorgenommen und die daraus resultierenden Handlungsfelder in der Studie „Digitale Souveränität“, die im Oktober 2021 veröffentlich wurde, benannt. Untersucht wurden u.a. Abhängigkeitsstrukturen, Anbieter- und Anwenderkompetenzen in sechs zentralen Technologiefeldern, Hardware/Infrastruktur, Software/Anwendungen, IT-Sicherheit, KI, Digitale Plattformen, Daten.

Für über drei Viertel der Unternehmen in beiden Branchen sind die Standorte (Deutschland oder EU) der Anbieter von digitalen Technologien/Anwendungen (75 Prozent), die Interoperabilität/Modularität von IT-Systemen (85 Prozent Informationswirtschaft /78 Prozent) und die Datenhoheit (90 Prozent /84 Prozent) essenziell für das eigene Unternehmen. Obwohl das Thema digitale Souveränität in den Unternehmen gegenwärtig noch keine dominante Rolle einnimmt (40 Prozent berücksichtigen das Thema wenig oder gar nicht), glauben die Hälfte der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe und 60 Prozent in der Informationswirtschaft, dass digitale Souveränität für den langfristigen Erfolg des eigenen Unternehmens entscheidend sein wird.

Eine so verstandene digitale Souveränität bedeutet weder Autarkie (alles im Inland herstellen zu können) noch industriepolitischen Protektionismus, im Sinne von einer Errichtung von Handelshemmnissen zum Schutz der heimischen Digitalwirtschaft. Sondern bezieht sich auf die Verfügbarkeit von beziehungsweise der Zugang zu entsprechenden Technologien und Daten sowie die (kooperative) Herstellungs- und Entwicklungskompetenz in als relevant/kritisch befundenen Technologiefeldern und Schlüsseltechnologien. Die Fähigkeit elementare Bereiche der Wirtschaft selbstbestimmt und frei von Einschränkungen und Einschüchterungsversuchen zu gestalten, bedingt die Schaffung von Herstellungs- und Entwicklungskompetenzen, die zwar nicht frei von Abhängigkeiten sind, diese jedoch auf einem gemeinsamen Wertesystem und rechtlichen Rahmen basieren. Eine größere Angebotsvielfalt, nicht Abschottung ist das Ziel.

Individuell-staatliche Gestaltungsmöglichkeiten bei Themen wie Quantencomputing, Kryptographie, aber auch 5G sind begrenzt und so können und werden nur kooperative, europäische Ansätze in Zusammenarbeit mit strategischen Partner dabei helfen, die Schmerzpunkte der digitalen Abhängigkeit von Staaten, die nicht unser freiheitlich-demokratisches Rechtssystem teilen, zu reduzieren. Damit kann der Zugang zu digitalen Technologien auch in Krisenzeiten gewährleistet werden.

Wohin wollen wir steuern?

Digitale Souveränität ist einer fortwährenden Dynamik unterworfen und von daher kein statischer Zustand, der mit einigen Maßnahmen erreicht werden kann. Agiles und kooperatives Handeln auf nationaler und europäischer Ebene ist notwendig. Es bedarf eines Dreiklangs aus erstens strategischen Entscheidungen für kritische Bereiche die als Schlüsseltechnologien definiert werden und die dahingehend geprüft werden, ob und wie Komponenten oder komplette Herstellungsprozesse in Eigenregie oder kooperativ hergestellt werden können und auf die auch in Krisenzeiten der Zugriff gewährleistet werden kann. Zweitens braucht es klare politische Entscheidungsprozesse und Umsetzungsinstrumente die im Einklang mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten sind. Drittens benötigen wir eindeutige Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen die sowohl auf einer strategischen Regierungsebene als auch auf der operativen behördlichen Umsetzungsebene funktionieren.

Im gemeinsamen Papier Deutschland. Digital. 2030. des Senior Fellows Network der Universität Potsdam und des Wirtschaftsforum der SPD, werden notwendige Eckpunkte für eine digitale Zukunftsstrategie benannt. Darin wird unter anderem richtigerweise gefordert, dass es eines Ordnungsrahmens bedarf, der in den europäischen digitalen Binnenmarkt eingebettet ist und der Einheitlichkeit und Rechtssicherheit garantiert. Am Beispiel der DSGVO zeigt sich, dass Rechtssicherheit nur geschaffen werden kann, wenn es keinen Gestaltungsspielraum gibt, der in jedem Mitgliedsland entsprechend der Einstellung der jeweiligen Datenschutzaufsichtsbehörde unterschiedlich interpretiert wird. Durch eine stärkere Harmonisierung werden Hemmnisse abgebaut und Unternehmen befähigt, digitale Technologien rechtssicher im Binnenmarkt einsetzen und skalieren zu können.

Besonders kleine und mittlere Unternehmen benötigen klar definierte Leitlinien und Unterstützung bei der Umsetzung, da die Informationslage mit Blick auf Abhängigkeitsstrukturen, Entwicklungspotenzialen und Lösungsstrategien, große Defizite aufweist. Konkret könnten die Zentren des Mittelstand-Digital-Netzwerks Aufklärungsarbeit leisten und den Unternehmen sowohl die politischen Vorgaben erklären als auch bei der Erstellung eines Implementierungskonzepts behilflich sein.

Methoden zum strategischen „Foresight“ sind dabei notwendig, um neue Entwicklungen und Veränderungen in Technologiefeldern erkennen und Anbieterstrukturen bewerten zu können. Nur mithilfe eines kontinuierlichen Monitorings können Entscheidungsprozesse mit fundierten Informationen begleitet werden, die Maßnahmen nicht nur am aktuellen Bedarf ausrichten, sondern Zukunftstechnologien, mit all ihren Abhängigkeitsverhältnissen des Lieferantennetzwerks im Blick haben und frühzeitig zum Aufbau von Strukturen beitragen.

Digitale Souveränität ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die eine Vielzahl an Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene betrifft und involviert. Es bedarf einer zentralen Koordinierungsstelle und einer Organisationsstruktur, ähnlich der Rolle des Zentrums für Digitale Souveränität der öffentlichen Verwaltung (ZenDIS) auf übergeordneter Ebene, die die Leitplanken setzt, diese immer wieder neu bewertet und mit den Ergebnissen des kontinuierlichen Monitorings abgleicht, und vor allem mittel- bis langfristig plant.

Unsere Wirtschaft ist trotz aller Digitalisierungsdefizite stark vernetzt. Bei Fragen der digitalen Souveränität gilt es nicht schelle mediale Erfolge zu erzielen, sondern strategisch, nachhaltig und mit Weitsicht vorzugehen. Das Ziel ist nicht Protektionismus und Autarkie. Europas Ansatz ist und bleibt die Technologieoffenheit und somit auch unsere politische Souveränität zu wahren.

Alexander Szanto ist Research Fellow am Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) in Potsdam.

In unserer Reihe Perspektiven ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit ein. Zuletzt von Alexander Szanto erschienen: Black-Box Lieferkette.

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