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Standpunkte Digitale Barrierefreiheit ist keine lästige Pflicht

Basanta Thapa vom Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Basanta Thapa vom Kompetenzzentrum Öffentliche IT

Digitale Barrierefreiheit ist kein besonderer Luxus, sondern unverzichtbar, damit Bürger:innen ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen können, schreibt Basanta Thapa vom Kompetenzzentrum Öffentliche IT. In der Verwaltung fehlt es aber an Expertise und Ressourcen. Das muss sich ändern.

von Basanta Thapa

veröffentlicht am 16.11.2021

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Barrierefreiheit ist ein anstrengend umzusetzendes Luxusthema – eine Haltung, die im öffentlichen Sektor immer noch präsent ist. So lässt sich überspitzt erklären, warum digitale Verwaltungsangebote in Deutschland oft nur halbherzig und lückenhaft barrierefrei sind. Dabei ist es bereits seit 20 Jahren Vorschrift, dass alle die Webseiten und Apps unserer öffentlichen Verwaltung leicht und vollständig nutzen können. Das bedeutet beispielsweise, sich Textfelder von Antragsformularen am Computer in sinnvoller Reihenfolge vorlesen lassen zu können. Oder Webseiten auch ohne Feinmotorik navigieren zu können. Oder auch mit niedrigem Leseniveau aus Amtstexten die wichtigen Informationen ziehen zu können. Dabei geht es nicht nur um einen diffusen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe, sondern konkret darum, Rechte und Pflichten als Bürger:in dieses Landes wahrnehmen zu können.

Wie es um die digitalen Barrierefreiheit der deutschen Verwaltung wirklich steht, davon erhalten wir im nächsten Jahr ein erstes, stichprobenartiges Lagebild, wenn ein neuer verpflichtender Vergleichsbericht der EU erscheint. Am Fraunhofer Kompetenzzentrum für Öffentliche IT haben wir die vergangenen Monate über bereits an einer Studie zum Thema gearbeitet. Die Expert:innen, die ich dabei befragt habe, stellen der deutschen Verwaltung ein durchwachsenes Zeugnis mit viel Luft nach oben aus. Einen eigenen Eindruck kann man sich verschaffen, in dem man auf beliebigen öffentlichen Webseite einen Blick in die „Erklärung zur Barrierefreiheit“ und dort insbesondere auf die „Nicht barrierefreien Inhalte“ und ihre Begründung wirft.

Digitale Barriere: Kein Bewusstsein, keine Konsequenzen

Der Eindruck, digitale Barrierefreiheit sei ein Luxusthema, entsteht deshalb schnell, weil die bestehenden Vorschriften nur selten konsequent durchgesetzt werden. In öffentlichen IT-Projekten geht Barrierefreiheit als eine unter vielen Anforderungen zudem oft unter, weil das Bewusstsein fehlt, wie sich digitale Barrieren auswirken. Die befragten Expert:innen erklärten dies so: Projektverantwortliche hätten oft noch nie persönlich erlebt, wie Menschen mit Beeinträchtigung digitale Medien nutzen und an Barrieren scheitern – auch mangels Kolleg:innen mit Behinderung. Dadurch fehle die Vorstellungskraft, welche Folgen es für Bürger:innen hat, wenn digitale Barrierefreiheit angesichts nahender Projektfristen und schwindenden Budgets immer weiter herabpriorisiert wird.

Anders als bei Themen wie IT-Sicherheit und Datenschutz drohen auch kaum negative Konsequenzen, wenn Barrierefreiheit im Laufe des Projekts unter den Tisch fällt. Beauftragte für digitale Barrierefreiheit seien in den Behörden dünn gesät und bei Beschwerden folge schlimmstenfalls ein eher zahnloses Schlichtungsverfahren. Bei verwaltungsinternen IT-Lösungen ist das ein bisschen anders: Dort sei das Augenmerk auf Barrierefreiheit größer, weil hier ein Veto der betrieblichen Schwerbehindertenvertretung droht. Diese Gemengelage lässt digitale Barrierefreiheit als etwas erscheinen, das man nur mit genug Geld und Zeit umsetzen kann – was natürlich selten der Fall ist.

Darüber hinaus wird es als anstrengend wahrgenommen, digitale Barrierefreiheit umzusetzen, weil schlichtweg die Expertise fehlt. Dies gilt in der Verwaltung, aber auch in deutschen Web-Agenturen und Softwareschmieden. So ist Barrierefreiheit in öffentlichen Ausschreibungen bisweilen nur vage als Anforderung formuliert, Auftragnehmende tun sich schwer bei der Umsetzung und die Auftraggebenden vermögen die Arbeitsergebnisse kaum kompetent abzunehmen. Besonders eklatant war dies etwa bei der Luca-App der Fall, die erst nach Protesten der Behindertenverbände barrierefrei nachgerüstet wurde.

„Barrieren der Barrierefreiheit“: Fehlende Informationen 

Erschwerend kommt hinzu, dass jene, die gewillt sind, das Thema zu priorisieren, bei der Suche nach relevanten Vorschriften, Umsetzungshilfen und Tools auf eine fragmentierte, oft ehrenamtlich bereitgestellte Informationslandschaft treffen. Dort weiß man nicht immer, wie aktuell die Informationen sind und wird häufig viel Vorwissen vorausgesetzt. Diese „Die Barrieren der Barrierefreiheit“ lassen Umsetzungswillige schnell überfordert zurück. So werden auch vermeintliche Routineaufgaben wie „Sorgen Sie bitte dafür, dass die PDF auch barrierefrei ist!“ leicht zur Charakterprobe.

Was dagegen helfen kann? Motivationssteigernd kann einerseits ein persönlicher Bezug zur Barrierefreiheit unter Verwaltungsmitarbeitenden wirken. Beispielsweise, indem diese bei Veranstaltungen erleben, wie Menschen mit Behinderung mit digitalen Medien umgehen, und dies auch selbst ausprobieren. Auch ein engeres Monitoring und schärfere Sanktionsmöglichkeiten können anspornen. Die aktuellen Regelungen setzen vorwiegend auf individuelle Meldungen von Bürger:innen – und somit darauf, dass diese, nachdem sie schon mit den digitalen Barrieren viel Zeit verloren haben, noch mehr Zeit für eine Beschwerde aufwenden.

Damit digitale Barrierefreiheit nicht mehr so komplex und anstrengend erscheint, braucht es unter anderem zielgruppen- und anwendungsspezifische aufbereitete Informationsangebote, die auch ohne Vorwissen umsetzbar sind. Der Guide zur digitalen Barrierefreiheit der Schweizerischen Bundesbahnen zeigt, wie so etwas aussehen kann. Auch technische Hilfsmittel, wie auf Barrierefreiheit optimierte Design-Baukästen, erleichtern die Umsetzung. So etwas entsteht mit dem Design-System.SH gerade in Schleswig-Holstein, und das United States Web Design System macht vor, wie dies barrierefrei geht.

Expert:innen für jedes Amt

Schlüssel für all dies und mehr ist die Ressourcenausstattung und das Mandat der Fachstellen für digitale Barrierefreiheit. Diese bereiten maßgeschneidertes Informationsmaterial auf, beraten bei Ausschreibungen, stärken mit Veranstaltungen das Problembewusstsein, treiben die Beschaffung technischer Hilfsmittel voran und setzen Barrierefreiheit immer wieder auf die verwaltungsinterne Agenda. Um dies wirksamer zu tun, brauchen sie nicht nur mehr Personal und Befugnisse, sondern sie müssen auch dezentraler aufgestellt sein. Statt einer Fachstelle pro Bundesland braucht es Barrierefreiheitsexpert:innen in jedem Amt, wie es Berlin etwa gerade umsetzt.

Am Ende geht es um die Frage: Behandeln wir digitale Barrierefreiheit in der Verwaltung als eine lästige Pflicht, die wir mit kleinstmöglichem Aufwand irgendwie abhaken wollen? Oder gestalten wir aus Überzeugung Verwaltungsangebote für wirklich alle Bürger:innen?

Basanta E.P. Thapa arbeitet am Kompetenzzentrum Öffentliche IT, einer staatlichen Denkfabrik zur Digitalisierung des öffentlichen Sektors am Fraunhofer FOKUS in Berlin. Der Verwaltungswissenschaftler hat unter anderem an der Hertie School, dem European Research Center for Information Systems und der Technischen Universität Tallinn insbesondere zur Datennutzung in der Verwaltung geforscht. Seine Studie zur digitalen Barrierefreiheit ging heute online und finden Sie hier.

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