Das ukrainische Ministerium für digitale Transformation ist im Jahr 2019 gegründet worden. Seitdem arbeiten Sie an der Digitalisierung der öffentlichen Dienste. Wie hat der Krieg Ihre Arbeit verändert?
Wir alle mussten erst mal einen sicheren Ort zum Arbeiten finden. Die Form der Arbeit hat sich aber eigentlich gar nicht sehr verändert, weil wir wie schon während der Pandemie remote arbeiten. Der Schwerpunkt der Projekte ist aber anders. Wir arbeiten jetzt hauptsächlich an Ad-hoc-Lösungen. Wenn wir ein Problem oder eine Herausforderung sehen, versuchen wir, sehr schnell zu reagieren.
Was hat aktuell Priorität?
Das wichtigste strategische Ziel ist es, diesen Krieg mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu gewinnen. Wir im Ministerium für digitale Transformation kämpfen sowohl an der digitalen als auch an der wirtschaftlichen Front. Wir setzen uns für den Boykott russischer Waren ein und für den Boykott von Unternehmen, die in Russland arbeiten. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Kommunikation mit internationalen Partnern in Bezug auf Hilfsmittel wie zum Beispiel Starlink oder IT-Ausrüstung. Das wird in vielen Regionen im Moment dringend benötigt. Zwei Regionalverwaltungen sind leider bombardiert worden. Viele Menschen müssen also woanders arbeiten und brauchen dafür Ausrüstung.
Was waren die wichtigsten Projekte des Ministeriums vor dem Krieg?
Das Ministerium für digitale Transformation ist ein neues Ministerium in der Ukraine. Es ist erst zweieinhalb Jahre alt. Wir haben vier strategische Hauptziele für die nächsten vier Jahre definiert. Das erste lautet, 100 Prozent der öffentlichen Dienste online verfügbar zu machen. Das zweite ist, das ganze Land mit einem Internetzugang zu versorgen. Das dritte Ziel ist, sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern digitale Kompetenzen zu vermitteln. Und das vierte ist, den Anteil der IT-Branche am BIP der Ukraine auf 10 Prozent zu erhöhen. Um all diese Ziele zu erreichen, hat unser Ministerium ein nationales Ökosystem namens Diia entwickelt. Diia bedeutet auf Ukrainisch „Aktion“.
Woraus genau besteht das Diia-Ökosystem?
Das Diia-Ökosystem besteht aus fünf verschiedenen Projekten. Das erste ist eine App für digitale Dokumente auf dem Smartphone, die von fast 16 Millionen Menschen genutzt wird. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger können auf wichtige Dokumente zugreifen, die den gleichen Status haben wie das analoge Äquivalent. Das zweite Projekt des Ökosystems ist das staatliche Webportal für Dienstleistungen. Dort haben wir bisher 70 öffentliche Dienstleistungen digitalisiert.
Das dritte Projekt ist Diia City, ein virtuelles Geschäftsland für IT-Unternehmen. Es bietet Unternehmen aus der ganzen Welt, die in der Ukraine Geschäfte machen wollen, eine spezielle digitale Residenz mit einer rechtlichen und steuerlichen Grundlage. Das vierte Projekt ist Diia Digital Education. Es handelt sich um eine Plattform mit mehr als 70 Kursen für digitale Kompetenzen. Mehr als 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben die E-Learning-Angebote bereits genutzt. Und das letzte Projekt ist Diia Business, ein Projekt um ukrainische KMU zu unterstützen.
Welche Dokumente sind in Diia bereits digital zugänglich?
Wir waren das erste Land der Welt mit digitalen Pässen. Der Pass in der Diia-App ist dem physischen gleichgestellt. Und wir sind das vierte Land in Europa mit digitalen Führerscheinen. Außerdem enthält Diia bereits die digitalen Äquivalente für die Kfz-Zulassung, die Kfz-Versicherung, den Studierendenausweis, die Steuernummer, die Geburtsurkunde, die Bescheinigung für Binnenvertriebene und das Covid-Zertifikat. Die Liste wird ständig erweitert.
Sie haben gesagt, das gesamte Diia-Ökosystem wurde in den vergangenen zweieinhalb Jahren entwickelt. Wie war das so schnell möglich?
Wir hatten das Ziel, die Ukraine zu einem weltweiten Vorreiter der Digitalisierung zu machen. Zum Start haben wir eine Umfrage durchgeführt. Wir wollten herauszufinden, was sich die Menschen vom Staat und der Verwaltung erwarten. Das Ergebnis: Der Zugang zu staatlichen Leistungen soll einerseits gleichberechtigt und frei von korrupten Praktiken funktionieren und andererseits einfach und verständlich gestaltet sein. Mit der Marke Diia haben wir den Dialog mit dem Staat darauf reduziert, einen Button zu drücken.
Zusätzlich zum Digitalministerium haben wir im vergangenen Jahr die neue Position der CDTOs (Chief Digital Transformation Officers) geschaffen. Diese Personen sind in verschiedenen Ministerien und Regierungsbehörden tätig, auch auf Ebene der Regionen und Städte. Jeder CDTO ist für die Digitalisierung in ihrem oder seinem Bereich verantwortlich. Mykhailo Fedorov, der ukrainische Minister für digitale Transformation, ist gleichzeitig Vizepremierminister des Landes. Er koordiniert die Arbeit aller CDTOs. Auf diese Weise beeinflusst das Digitalministerium alle Politikbereiche.
Welche Rolle spielen die CDTOs auf lokaler Ebene?
Die meisten öffentlichen Dienstleistungen werden auf lokaler Ebene erbracht. In den Gemeinden – wir nennen sie „hromadas“ – gehen unsere Kinder in den Kindergarten und in die Schule, hier nutzen die Menschen öffentliche Verkehrsmittel, erhalten medizinische Leistungen und so weiter. Deshalb ist die digitale Transformation der Regionen der Schlüssel zur Verbesserung des Lebens der Menschen. Die CDTOs sind für die Entwicklung einer grundlegenden digitalen Infrastruktur zuständig, also für Internetanschlüsse, Dienstleistungszentren und eine papierlose Verwaltung. Sie sind auch für die Verbesserung der digitalen Kompetenzen, die Vereinfachung der Verwaltung und die Umsetzung von Projekten der digitalen Industrie in den Bereichen Medizin, Bildung, Verkehr, Umwelt, Kultur, Demokratie und Sicherheit zuständig. Unser wichtigstes Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass es in jeder Region und Gemeinde CDTOs und Einheiten für den digitalen Wandel gibt. Unser zweitwichtigstes Ziel ist es, dass die CDTOs über die notwendigen Befugnisse und Ressourcen verfügen, um schnelle Ergebnisse zu erzielen.
Viele der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Ministeriums für digitale Transformation kommen aus der Wirtschaft, auch Sie. Wie hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Wir sind fünf stellvertretende Ministerinnen und Minister im Ministerium für digitale Transformation und keiner von uns war vorher in der Regierung. Die meisten von uns kommen aus der Wirtschaft. Das macht unser Management sehr effektiv. Wir haben einen strategischen Plan, einen taktischen Plan, Benchmarks, und wir nutzen verschiedene Managementmodelle, um unsere Ziele zu erreichen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir nicht für immer hier sind, sondern einen nachhaltigen Wandel einleiten wollen. Deshalb möchte jeder von uns so gut wie möglich abschneiden.
Die Ukraine hat also eine neue technische und organisatorische Infrastruktur für die digitale Transformation geschaffen. Wie nutzen Sie diese jetzt im Krieg?
Zunächst einmal haben wir neue Ad-hoc-Dienste zu Diia hinzugefügt. Es gibt einen Dienst für Spenden an die Armee, einen Chatbot, mit dem unseren Streitkräften Informationen über die Verlagerung russischer Truppen und gegnerische Ausrüstung gesendet werden können. Diia TV und Diia Radio bieten rund um die Uhr Zugang zu wahrheitsgetreuen Nachrichten über den Krieg. Außerdem können Unternehmen, die nicht mehr arbeiten können, und Bürger, deren Eigentum beschädigt wurde, finanzielle Unterstützung beantragen.
Welche Beispiele gibt es noch?
Wir haben zum Beispiel eine völlig neue App für Luftwarnungen veröffentlicht. Sie wurde in nur einem Tag in Zusammenarbeit mit Ajax Systems und dem ukrainischen IT-Unternehmen Stfalcon entwickelt. Die Idee ist, dass man die App herunterlädt, die Stadt auswählt, in der man wohnt, und wenn es einen Luftalarm gibt, ertönt ein Ton auf dem Smartphone und man weiß, dass man sich in den Luftschutzkeller begeben muss.
Wir haben ein starkes Team von Entwicklerinnen und Entwicklern im Ministerium, aber wir bekommen auch viel Hilfe von Unternehmen. Wir haben schon zu Beginn unseres Ministeriums mit der Wirtschaft zusammengearbeitet, aber jetzt, während des Krieges, gibt es noch mehr Unterstützung – von verschiedenen Unternehmen, Regierungen und internationalen Gebern.
Neben Unternehmen und Regierungen gibt es seit der russischen Invasion auch viele Freiwillige, die die Ukraine digital unterstützen, zum Beispiel in der so genannten IT-Armee. Wie wird das koordiniert?
Als der Krieg begann, haben unser Ministerium viele Hilfsangebote für die Cyberfront erreicht. Um Spezialisten zu gewinnen und ihre Hilfe zu systematisieren, wurde ein Telegram-Chat für die IT-Armee eingerichtet. Mehr als 300.000 Cyber-Spezialisten sind schon beigetreten. Und die Zahl der Teilnehmenden wächst jeden Tag. Diese IT-Armee vereint ukrainische und internationale IT-Spezialisten, Gründer und Kommunikatoren, die alle das Ziel verfolgen, die russische Aggression an der Cyberfront zu bekämpfen. Sie ist zu einer Plattform für die Unterstützung des Kampfes sowohl durch unabhängige Fachleute als auch durch verschiedene Organisationen geworden. Sie führen Aufgaben aus, die im Chat veröffentlicht werden. Infolgedessen wurden beispielsweise mehrere Websites russischer Regierungsstellen und Banken zum Absturz gebracht.
Für wie wichtig halten Sie den digitalen Kampf?
Er ist extrem wichtig. Es geht aber nicht nur um die Cyberfront, sondern generell um neue Technologien. Die Starlink-Technologie, die wir von SpaceX und Elon Musk erhalten, hilft uns zum Beispiel, unser Land mit einer guten Internetverbindung zu versorgen. Es geht auch um Kommunikation durch neue Technologien. Mit unserer Kommunikationskampagne haben wir viele große Tech-Unternehmen unter Druck gesetzt, ihre Arbeit in Russland einzustellen und das Land zu isolieren. Diese „digitale Blockade“ ist zu einem wichtigen Faktor geworden, um Druck auf Russland auszuüben.
Gleichzeitig geht der analoge Krieg mit all seiner Grausamkeit und Zerstörung weiter. Welche Dienstleistungen der Verwaltung brauchen die Menschen im Moment überhaupt? Hat sich die Nachfrage komplett auf die neuen Ad-hoc-Lösungen verlagert?
Wir alle leben unter den Umständen des Krieges. Wir wachen morgens mit den Nachrichten auf und schließen abends mit den Nachrichten des Tages wieder unsere Augen. Wir wollen uns nicht daran gewöhnen. Aber in den Regionen, in denen es keine aktiven Kriegshandlungen gibt, versuchen viele Unternehmen, ihre Arbeit fortzusetzen – auch wenn es schwierig ist. Aus diesem Grund werden viele Dienstleistungen der Verwaltung im Zusammenhang mit der Gewerbeanmeldung und Fragen der Steuer immer noch stark nachgefragt. Außerdem sind die Antragsformulare für finanzielle Unterstützung für Vertriebene und für beschädigtes Eigentum wichtig. Wir haben über 66.000 Anfragen in nur zehn Tagen bekommen. Ich denke, wir werden von der endgültigen Zahl der Anträge überwältigt sein.
Die Fragen stellte Helen Bielawa.