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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Verkehrsplanung und Klimaschutz – wohin entwickeln sich die Regelwerke?

Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und -technik, Universität Wuppertal
Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und -technik, Universität Wuppertal

Es ist höchste Zeit, die Straßen in den Städten an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Eine neue Form der Straßengestaltung kann dazu beitragen, längere Trockenperioden zu überstehen, Regenwasser zu speichern und Verhaltensänderungen hin zu stärkerer Nutzung des ÖPNV, des Fahrrads und der eigenen Füße zu fördern.

von Jürgen Gerlach

veröffentlicht am 18.07.2023

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Der heutige Straßenbestand wird den vielfältigen Anforderungen und Bedürfnissen vielerorts nicht mehr gerecht. Gehwege fehlen oder sie sind viel zu schmal und nicht barrierefrei gestaltet. Die Straßenräume heizen sich im Sommer unerträglich auf, weil es kaum Bäume, kaum Oberflächenwasser, dafür aber versiegelte Flächen und parkende Fahrzeuge gibt. Es fehlt ein objektiv und subjektiv sicheres Angebot für den Radverkehr. Schnelle Radfahrende im Berufsverkehr können langsam Radfahrende nicht überholen, ohne auf andere Anlagen ausweichen zu müssen. Stadtbahnen und Busse stehen auf gemeinsamen Fahrstreifen mit dem Kfz-Verkehr im Stau. Für Anwohnerinnen und Anwohner ist es in vielen städtischen Hauptverkehrsstraßen zu laut, im Sommer zu heiß und insgesamt gesundheitsschädlich.

Wie eine Straße gestaltet wird, entscheiden die kommunalpolitischen Gremien in rund 11.000 deutschen Städten und Gemeinden. Wie eine Straße genutzt wird, entscheiden wir mit unserem Verkehrsverhalten. Diese Entscheidungen beruhen auf Rahmenbedingungen, die das Verhalten beeinflussen. Ein Beispiel: Damit zwei zu Fuß gehende Personen, auch Rollstuhlfahrende und Rollatornutzende, nebeneinander gehen oder sich begegnen können, ist eine nutzbare Gehwegbreite von mindestens 1,80 Meter erforderlich.

Dieses Mindestmaß ist seit langem in Regelwerken verankert, die als Abwägungsgrundlage für kommunalpolitische Entscheidungen dienen. Nicht selten führt „hoher Parkdruck“ dazu, dass aufgrund einer kommunalpolitischen Entscheidung viele Stellplätze im Straßenraum angeboten werden und die Regelmaße für Gehwege unterschritten werden. Für das Zufußgehen wird ein solcher Straßenraum unattraktiv. Das Auto steht vor der Tür, während das Fahrrad erst aus dem Keller geholt werden muss und die nächste Haltestelle 300 Meter entfernt ist. Kein Wunder, dass dann das Auto genommen wird.

Neue Regeln der Technik zur Gestaltung von Stadtstraßen

Anders wäre es, wenn nicht nur die Geh- und Radwege breit genug wären, sondern auch viele schattenspendende Bäume, Grünbeete, Oberflächenwasser und Ruhebänke statt Parkbuchten die städtischen Straßenräume prägen würden. Wenn dann noch weniger Autos und diese langsamer und emissionsärmer fahren würden, wären die Straßen wieder viel attraktiver zum Radfahren, Gehen, Unterhalten, Spielen und Verweilen.

Ein entsprechender Stadtumbau ist nicht nur wünschenswert, sondern notwendig und wird durch neue Regeln der Technik unterstützt. Bundesweite Standards und Empfehlungen für die Verkehrsplanung sowie den Bau und Betrieb von Straßenverkehrsanlagen werden von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (kurz FGSV) erarbeitet und herausgegeben. Sie bilden die wesentliche Grundlage für die kommunalpolitischen Entscheidungsprozesse bei allen Straßenplanungen im gesamten Bundesgebiet. Eine neue Generation von Regelwerken für Rad- und Gehwege, Fahrbahnen und Parkierungsanlagen ist teilweise bereits veröffentlicht, teilweise in Vorbereitung.

Ein wesentlicher Bestandteil der neuen Regeln ist es, Straßen in Zukunft „klimafit“ zu machen. Neue Standards und Empfehlungen sollen dazu beitragen, versiegelte Flächen in Grün- und Retentionsflächen für ein gutes Mikroklima und einen ausgeglichenen Wasserhaushalt umzuwandeln, attraktive Flächen zum Radfahren, Zufußgehen und zum Verweilen zu schaffen und das Parken weitgehend auf andere Flächen außerhalb des Straßenraums zu verlagern, um die Aufheizung der Verkehrs- und Straßenräume zu reduzieren.

Regelwerk zum Erreichen von Klimaschutzzielen im Bereich Verkehr

Die bereits veröffentlichten „E Klima – Empfehlungen zur Anwendung und Weiterentwicklung von FGSV-Veröffentlichungen im Bereich Verkehr zur Erreichung von Klimaschutzzielen“ folgen der Notwendigkeit des Stadtumbaus und enthalten in Verbindung mit Steckbriefen zu einzelnen Regelwerken auch neue Handlungsoptionen. Ziel ist es, dem Rad- und Fußverkehr durchgängig regelkonforme und möglichst attraktive Netze anzubieten. Abwägungen zugunsten des ruhenden Verkehrs und zulasten von Geh- und Radwegen, die zu einer Unterschreitung der erforderlichen Maße führen, sollen damit der Vergangenheit angehören.

Das in Druck befindliche Regelwerk für Anlagen des ruhenden Verkehrs empfiehlt, Stellplätze im Straßenraum, die nicht für schwer Gehbehinderte und Rollstuhlfahrende benötigt werden, auf ein Minimum zu reduzieren, um Flächen für Grünbereiche, für die Retention, für dezentrale Entwässerung mit Versickerung sowie für andere umweltfreundliche Verkehrsarten zu gewinnen und die Aufheizung der Straßenräume zu verringern.

Die alternative Unterbringung von Stellplätzen in zusammenhängenden Parkflächen oder Parkbauten bietet sich auch für die effiziente Abwicklung von E-Ladevorgängen, Liefer- und Ladeverkehren sowie für Sharing-Angebote als Mobilitätshub/Mobilitätsstation an. Da in Parkhäusern und auf Parkplätzen bereits heute und zukünftig vermehrt ausreichend breite Parkstände zur Verfügung stehen, die über dann attraktiv gestaltete Straßen und Wege fußläufig erreichbar sind, erscheint die Umsetzung derartiger Regelungen realisierbar. 

Verhaltensänderungen und Akzeptanz notwendig

Mit Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 zum Klimaschutzgesetz, das uns alle in die Pflicht nimmt, ist es mehr denn je angezeigt, gemeinsam klimaorientiert zu handeln. So wird es immer öfter notwendig sein, auf das Parken auf der Straße zu verzichten, um der Konversion von Flächen den notwendigen Raum zu geben. Nicht immer, aber immer öfter geht es darum, Bus und Bahn zu nutzen, Rad zu fahren, zu Fuß zu gehen oder Fußwege zum geparkten Fahrzeug in Kauf zu nehmen. Die Gewinne sind ein Mehr an Lebensqualität und gute Zukunftsaussichten für uns alle. 

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