„Die EU muss zukunftsfähig werden“, so fasste Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den informellen Europäischen Rat in Granada, Spanien, vor einigen Wochen zusammen. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder verpflichteten sich, die Position der Union als industrielles, technologisches und kommerzielles Kraftzentrum zu stärken, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Bereichen liegen soll, in denen die EU bereits einen Wettbewerbsvorteil besitzt. Zweifelsfrei betrifft das die Entwicklung von globalen Konnektivitätsstandards wie 5G und bald 6G, bei der europäische Innovatoren seit Jahrzehnten eine führende Rolle spielen.
Konnektivitätsstandards sind das Ergebnis eines effizienten Ökosystems, das auf offener Zusammenarbeit basiert. Innovatoren, die in Forschung und Entwicklung (FuE) massiv investieren, steuern den Standards zukunftsweisende Lösungen bei. Diejenigen, die Technologien einbringen, welche für die Anwendung eines Standards essenziell sind, erhalten von den Nutzern des Standards eine Vergütung für ihren Beitrag durch die Lizenzierung von standardessenziellen Patenten (SEP) zu fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Bedingungen (FRAND). Diese Vergütung spiegelt in der Regel den wirtschaftlichen Wert wider, den die patentierte Technologie für das vernetzte Endprodukt hat. Die Lizenzeinnahmen werden dann zur Finanzierung der FuE-Investitionen in zukünftige Generationen von Standards verwendet. Dieser Innovationskreislauf könnte aber schon bald unterbrochen werden.
Unterbrechung des Kreislaufs der Innovation – warum die Eile?
Ende April 2023 stellte die Europäische Kommission einen radikalen neuen Vorschlag für eine Verordnung vor, welche die SEP-Landschaft in der EU verändern soll. Der Vorschlag führt ein weitreichendes, experimentelles System ein, ohne die erforderlichen Ressourcen und Expertise bereitzustellen. So sollen zum Beispiel bestimmte SEP-bezogene Aufgaben einem neuen „Kompetenzzentrum“ übertragen werden, das innerhalb des Amtes der EU für geistiges Eigentum (EUIPO) eingerichtet werden soll, einer Institution, die keinerlei Erfahrung mit Patenten oder Standards hat. Der Aufbau der geeigneten Strukturen und Kompetenz innerhalb des EUIPO wird viel Zeit und Ressourcen erfordern; wenn dieser Prozess ohne ersichtlichen Grund überstürzt wird, besteht die Gefahr, dass das gesamte System untergraben wird.
Seit seiner Veröffentlichung wurde der Kommissionsvorschlag vielfach kritisiert: Unternehmen, die zur Standardisierung beitragen, Experten für geistiges Eigentum und auch der Präsident des Europäischen Patentamtes sowie die Leiterin des US-Patent- und Markenamts haben Alarm geschlagen. Gleichzeitig stellen der Präsident des neu geschaffenen europäischen einheitlichen Patentgerichts, EU-Mitgliedstaaten und Forschungsorganisationen die Notwendigkeit beziehungsweise Rechtfertigung der vorgeschlagenen Änderungen infrage.
Trotz dieser Bedenken scheint das Europäische Parlament die Verordnung noch vor den Europawahlen Mitte 2024 in halsbrecherischem Tempo durchbringen zu wollen. Das ist ein straffer Zeitplan, wenn es um die Neuordnung eines langjährigen Ökosystems auf Basis von unerprobten Methoden und Verfahren geht.
Bedrohung der langfristigen Innovationsfähigkeit und des Wachstums in Europa
Innovatoren brauchen kommerzielle Anreize, um in die Entwicklung standardisierter Technologien zu investieren. Fehlende Investitionsanreize verlangsamen das Innovationstempo. Das Ergebnis ist ein Dominoeffekt: höhere Kosten für Standardnutzer und Verbraucher. Eine Verlangsamung des Innovationstempos und höhere Kosten für die Entwicklung von Konnektivitätsstandards sind schlechte Nachrichten für europäische Unternehmen, die zunehmend von der Konnektivität als Wachstumsmotor profitieren. Ohne „gebrauchsfertige“ Standards, die Interoperabilität gewährleisten, könnten Produkte aufgrund der Marktfragmentierung weniger Umsatz generieren.
In einer globalen Wirtschaft sind Innovation und die Beteiligung an Standards ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Bislang war Europa die zentrale Drehscheibe für Mobilfunkstandards, standardessenzielle Patente und einschlägige Rechtsprechung. Der SEP-Vorschlag deutet jedoch darauf hin, dass die EU ihren eigenen Technologieführern den Rücken kehrt.
In seinem jüngsten Bericht über den Verordnungsvorschlag fordert der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments die Kommission auf, die Folgen zentraler Elemente des Vorschlags für die Wettbewerbsfähigkeit von SEP-Inhabern aus der EU auf globaler Ebene zu bewerten, „um mögliche negative Auswirkungen für europäische Unternehmen zu vermeiden, die sich im Hinblick auf die Entwicklung globaler Technologien durch Standards engagieren und erfolgreich konkurrieren“. Darüber hinaus empfiehlt der Ausschuss für internationalen Handel erhebliche Änderungen an wesentlichen Teilen des Vorschlags und weist zudem darauf hin, dass „mehr Zeit für die Einrichtung der in der Verordnung vorgesehenen neuen Struktur benötigt wird“.
Auch gefährdet: Die technologische Führungsrolle der EU
Die politischen Entscheidungsträger sollten sich die Zeit nehmen, über die Auswirkungen der SEP-Verordnung auf die EU, ihre Verbraucher und Unternehmen sowie den digitalen Wandel und letztlich die globale Position Europas nachzudenken. Es steht viel auf dem Spiel. Die Lizenzeinnahmen für 2G-, 3G- und 4G-Standards belaufen sich jährlich auf rund 18 Milliarden Euro. Der SEP-Verordnungsvorschlag wird dies gefährden und die europäischen Lizenzeinnahmen an andere Teile der Welt abtreten. Asien, wo einige Unternehmen ansässig sind, die wichtige Beiträge zu globalen Konnektivitätsstandards leisten, wird vermutlich am meisten davon profitieren.
Die mit der Verordnung verbundenen Risiken überwiegen jeden Nutzen. Anstatt einen derart radikalen Vorschlag in den letzten Monaten des Mandats der aktuellen Kommission in aller Eile durchzubringen, sollte jede Neukalibrierung des Ökosystems der SEP-Lizenzierung so gewichtet werden, dass die Qualität erhalten bleibt und die europäischen Interessen geschützt werden. Dafür benötigt es Zeit und eine angemessene Konsultation aller betroffenen Akteure.
Jetzt ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und den SEP-Verordnungsvorschlag sorgfältig zu prüfen, um sicherzustellen, dass Europa bei der Entwicklung der Schlüsseltechnologien von morgen weltweit führend bleibt.
Gabriele Mohsler ist Leiterin der Patententwicklung bei Ericsson und weltweit verantwortlich für die Patenteerstellung und den Aufbau von Patentportfolios. Sie leitet eine Reihe von Patentabteilungen. Mohsler ist zudem Vizepräsidentin der LES Deutschland und gewähltes Mitglied des Vorstands der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR). Außerdem ist sie im Kuratorium von „Women in IP“.