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Digitalisierung & KI

Standpunkte Post-Rücksetzdienst-Trauma

Clemens Schleupner, Bitkom
Clemens Schleupner, Bitkom Foto: Martin Klemmer

Der Ärger über den ausgesetzten PIN-Rücksetzdienst ist berechtigt, muss aber dazu genutzt werden, um ernsthaft über die Zukunft digitaler Identitäten in Deutschland zu diskutieren, schreibt Clemens Schleupner von Bitkom. Denn diese sind kein kurzfristiges Projekt, sondern ein wesentlicher Teil der deutschen Infrastruktur.

von Clemens Schleupner

veröffentlicht am 11.01.2024

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Rund um digitale Identitäten gab es zuletzt eine gewaltige Aufbruchstimmung: Sie wurden zu einem Hebelprojekt der Digitalstrategie erklärt, danach folgte die Gründung des GovLabs und die Neuauflage der eIDAS-Verordnung, begleitet von einem europaweit einzigartigen Konsultationsprozess zu ihrer Umsetzung. Doch jetzt, in den ersten Januarwochen 2024, ist von dieser Aufbruchstimmung nicht mehr viel übrig. Es ist die Abschaffung eines Briefs, der die Gemüter erhitzt und eine Debatte um die Zukunft des Online-Ausweises losgetreten hat.

Denn mit dem Jahreswechsel wurde der PIN-Rücksetzungsdienst ausgesetzt – und das bedeutet, wer die Geheimzahl vergessen hat, die für die Onlinefunktionen des Personalausweises notwendig ist, muss wieder persönlich auf dem Bürgeramt vorstellig werden und bekommt die Möglichkeit für eine neue Geheimzahl nicht mehr per Post nach Hause geschickt. Das ist natürlich ein Rückschlag für die Verbreitung des Onlineausweises und die damit verbundenen Funktionen. Was muss getan werden, um 2024 nicht wirklich die Zukunft der Onlineverifizierung aufs Spiel zu setzen?

Eine Verständnisfrage

Digitale Identitäten drohen, sich in die Tradition der Digitalisierungs-Buzzwords einzureihen, die gerne genutzt, aber selten mit Leben gefüllt werden. Es reicht nicht, ein Thema zum Hebelprojekt auszurufen, wenn langfristige Strategie und Vision fehlen. Schon der Begriff „Projekt“ zeigt, dass Digitale Identitäten in weiten Teilen der Regierung noch nicht verstanden wurden: Die flächendeckende Etablierung digitaler Identitäten als Synonym für individuelle Zugangsschlüssel zu digitalen Services, Plattformen, Vertragsabschlüsse, Signaturen, etc. ist kein Projekt, das einen klaren Start- und Endpunkt hat. Es ist ein Infrastrukturprogramm, das tiefgehende Veränderungen in der Art und Weise, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung miteinander kommunizieren, mit sich bringt.

Digitale Identitäten müssen als wesentlicher Teil der Infrastruktur unseres Landes verstanden werden. Dass der größte Hemmschuh in der Verbreitung der eID der fehlende oder vergessene PIN ist, kann daher nur die halbe Wahrheit sein. Wer über den Tellerrand des PIN-Rücksetzdienstes hinausschaut sieht schnell, dass es vor allem die mangelhafte Förderung von Anwendungsfällen besonders im privaten Bereich ist, die Menschen eine PIN vergessen lässt, die sie eben nur einmal im Jahr verwenden können, wenn nicht noch seltener. Warum eigentlich? Ob im Finanz- (die Banken stehen bereit), Tourismus- oder Gesundheitssektor, überall gäbe es genügend Anwendungsmöglichkeiten für die eID und Digitale Identitäten.

Kurzfrist- vs. Langfristplanung

Zur vollen Wahrheit gehört auch, dass das Aus für den Rücksetzdienst durch das Streichen von 20 Millionen Euro Bundesmitteln zwar Symptom des Problems ist, aber nicht seine Ursache. Bisher fehlte der Bundesregierung neben einer langfristigen Strategie auch eine dazugehörige Finanzplanung. So gab es zwar ein Budget, aber keine Übersicht über tatsächliche, zukünftige Kosten, etwa bei einer erhöhten Nachfrage für eben die PIN-Rücksetzbriefe.

Ob die Priorität auch bei einem unveränderten Budget weiter auf dem Rücksetzungsservice gelegen hätte, der nach Schätzungen dann zwei Drittel des Budgets beansprucht hätte, darf bezweifelt werden. Wenn Langzeitvorhaben wie Kurzfristprojekte finanziert und damit auf Sicht gefahren werden, kann es nicht verwundern, wenn sie nicht funktionieren. Sowohl die Verwaltung als auch die Wirtschaft brauchen mehr Planungssicherheit und langfristig verlässliche Aussagen, die möglichst in einer engen Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Strukturen getroffen werden.

Scheinbare Alternativlosigkeit

Wer im Papierwald der deutschen Verwaltung tatsächlich einem Brief hinterhertrauert, weiß vielleicht noch gar nicht, dass eine erfolgreiche Digitalisierung genau diese Dienste ohnehin obsolet macht. Etwas, das sowohl kurz- als auch langfristig Abhilfe schaffen könnte, wäre daher ein gesunder Pragmatismus. Der Staat muss sich überlegen, was das übergeordnete, ressortübergreifende Ziel für digitale Identitäten ist und dann diesem Ziel entsprechend handeln. Stattdessen beharrt Deutschland anders als europäische Nachbarn auf dem höchstmöglichen Sicherheitsniveau für jedwede Verwendung digitaler Identitäten – und wird dadurch international abgehängt. Darauf weisen Unternehmen schon lange hin. Älter als dieses Credo ist nur, dass sich Behörden abwechselnd hintereinander verstecken, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen.

Dies wird auch durch teils verstrickte oder fehlende Zuständigkeiten, Abhängigkeiten und Fachaufsichtkompetenzen von Ministerien und Behörden gefördert. Für die Wirtschaft ergibt sich dadurch ein nicht akzeptabler Zustand der Unsicherheit. Kaum jemand scheint in der Lage zu sein, die nächste behördliche Entscheidung vorauszusehen. Mangelnde Kommunikation und fehlende Begründungen von Beschlüssen tun hier ihr Übriges. Das Potenzial, das in Deutschland in der Expertise und dem Tatendrang der Unternehmen liegt, bleibt so fahrlässig auf der Strecke. Stattdessen wächst das Misstrauen und die Frustration, wodurch fruchtbare Public-Private-Partnerships in weite Ferne rücken.

Quo vadis, eID?

Der nun entstandene Streit über den PIN-Rücksetzdienst ist berechtigt, muss aber dazu genutzt werden, um ernsthaft über die Zukunft digitaler Identitäten in Deutschland zu diskutieren. Das Problem ist nicht, dass die Bundesregierung aufhört, mehrere Millionen Euro für Briefe auszugeben, die teilweise sinnlos verschickt wurden (Stichwort: Verfall der Aktivierungsfrist). Es ist die scheinbare Alternativlosigkeit zu und damit Abhängigkeit von diesem Dienst.

Das trifft im Übrigen auch auf das, ebenfalls vorerst eingestellte, Projekt der Smart eID zu, die eID-Daten auf dem Smartphone speichern sollte und lange als der Goldstandard der Nutzerfreundlichkeit galt. Auch hier wurde nach der Verkündung, diesen Dienst nicht wie geplant freizuschalten, keine alternative Lösung präsentiert. Der Stillstand, den wir 2024 durch fehlendes Geld, fehlende Strategie und fehlendes Verständnis erleben werden, ist also hausgemacht. Und Stillstand ist nun mal das, was sich Deutschland in der Digitalisierung nicht mehr leisten kann, auch wenn es das einzige zu sein scheint, das momentan im Übermaß vorhanden ist.

Clemens Schleupner ist Referent für Vertrauensdienste und Digitale Identitäten beim Digitalverband Bitkom. Dort begleitet er die Umsetzung der eIDAS-Verordnung. Zuvor war er als Berater für den öffentlichen Sektor tätig und hat Politikwissenschaften in Nancy, Washington und Paris studiert.

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