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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wie können wir die Demokratie mit KI updaten?

Juri Schnöller, Politikberater, Unternehmer und Mitinitiator der gemeinnützigen Organisation „AI4Democracy“
Juri Schnöller, Politikberater, Unternehmer und Mitinitiator der gemeinnützigen Organisation „AI4Democracy“ Foto: privat

Die transformative Wucht von Künstlicher Intelligenz rollt auf unsere Gesellschaften zu – doch sind wir darauf vorbereitet? Nein, wenn es nach Juri Schnöller geht. Der Unternehmer und Politikberater plädiert für eine KI-Revolution von unten, die Deutschlands Demokratie modernisiert. Dazu müsse KI aber in der nächsten Legislaturperiode zur Chefsache werden, schreibt er im Standpunkt.

von Juri Schnöller

veröffentlicht am 26.06.2024

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Die Europawahl vor zwei Wochen hat erneut gezeigt, welch enormer Handlungsdruck auf der Politik aktuell liegt. Die Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung – aber auch mit der Lösungskompetenz der Parteien für die drängendsten politischen Probleme – befinden sich laut Umfragen auf einem Allzeit-Rekordhoch.

Laut Forsa glauben fast 50 Prozent der Menschen in Deutschland, dass sie in zehn Jahren ein schlechteres Leben führen werden als heute. Inmitten all dieser Entwicklungen rast die transformative Kraft Künstlicher Intelligenz mit einer Wucht heran, die unsere Gesellschaft in allen Facetten umkrempeln wird. Wohin genau, das wissen wir noch nicht – aber wir sind nicht gut vorbereitet. Das müssen wir alle gemeinsam ändern, und zwar schnell. Ich bin zutiefst überzeugt: Wenn wir die Demokratie mit KI nicht neu erfinden, wird sie schleichend und langsam an Legitimität und Vertrauen verlieren und letztlich sterben.

Warum brauchen wir einen Mutausbruch mit KI?

Im politischen Tagesgeschäft ist es mit der Prioritätensetzung wie mit Saurons Auge im Herrn der Ringe. Immer dort, wo man den Ring der gesellschaftlichen Dringlichkeit vermutet, wandert auch die Aufmerksamkeit. Als Land von Humboldt, Daimler und Goethe haben wir bisher erschreckend wenig diskutiert, wie wir unsere wichtigste Ressource Bildung angesichts der neuen technischen Revolution neu aufstellen. Noch immer ist es ein Kampf, sich durch die unzähligen Unterseiten bei Verwaltungsleistungen zu klicken – um oft am Ende doch noch alles ausdrucken und postalisch versenden zu müssen. Das Schaubild an Organisationen, die sich mit der Digitalisierung des Staates beschäftigen, gleicht dem Haus der Bürokratie aus Asterix und Obelix. Wer macht eigentlich genau was und wo liegt die zentrale Steuerung? Wo ist also unser Passierschein A38, der uns endlich den Booster im Staat zündet?

Die zentrale Frage: Welche Schwachstellen können wir mit KI-Technologie konkret ausmerzen? Besser heute als morgen: Deutschland, das sich auf sein preußisches Erbe von Effizienz und Ordnung beruft, hat jetzt die historische Chance, die versäumten Hausaufgaben der letzten Jahre im Warp-Modus von Captain Kirk anzugehen. Vertrauen ist der wichtigste Schlüssel, um Populismus effektiv zu bekämpfen und den Bürgern das Gefühl einer funktionierenden Demokratie zu geben. Dafür braucht es Agilität und Wirkungsorientierung.

Mehr Partizipation und Innovation dank KI

Künstliche Intelligenz kann die Bürgerbeteiligung revolutionieren und die Bildung als unsere wichtigste Ressource in unserem Land transformieren. Medienkompetenz ist der Dreh- und Angelpunkt im Kampf gegen KI-basierte Desinformation. Doch bisher fehlt es an konkreten Ansätzen und wie unser Bildungssystem mithilfe von KI wieder an die Spitze der OECD-Länder kommen will. Erste Tests in Singapur zeigen, dass personalisierte KI-Assistenten lernschwachen Schülern individuell helfen können. Warum nicht auch in Deutschland? Solche Systeme könnten dafür sorgen, dass kein Schüler zurückbleibt. Unsere Ergebnisse bei Pisa sind katastrophal und sollten eine Warnung sein, wie fahrlässig wir mit der einzigen echten Wohlstandsressource in unserem Land umgehen. Dafür braucht es aber Investitionen und eine nationale Prioritätensetzung. Keine Kleinstaatenfürsterei bei allen Bildungsfragen.

KI kann auch fortschrittliche Plattformen für Bürgerbeteiligung schaffen, wie Taiwan eindrucksvoll zeigt, die in Echtzeit Feedback zu politischen Vorschlägen sammeln und analysieren. Im Sinne von Willy Brandt: Mit KI können wir mehr Demokratie wagen. International betrachtet: Die Antwort auf Chinas digitalen Überwachungsstaat muss mehr Freiheit und mehr Beteiligung durch Technologie sein.

Die größte Staatsreform mit KI seit Freiherr vom Stein

Es braucht die große Staatsreform vom Stein 2.0. Die Coronakrise hat gezeigt, wie überfordert der Staat in weiten Teilen war – wir wären heute auf die nächste Krise marginal besser vorbereitet. Wie schaffen wir einen lernenden, agileren und smarteren Staat? Der Einsatz von KI könnte hier eine Revolution bewirken, indem sie strukturelle Probleme gezielt angeht und beispielsweise jede Kommune in Deutschland mit einem eigenen KI-Assistenten ausstattet, der von Kita-Planung bis Bauvorhaben Evidenz und Unterstützung leistet. Warum müssen Polizei und Staatsanwaltschaft in Bürokratie ertrinken, während Verbrechen im digitalen Raum und Hatespeech meist gar nicht zur Anzeige kommen? Warum warten hoch qualifizierte Ärzte aus dem Ausland monatelang auf die Anerkennung ihrer Abschlüsse? Eine KI kann dies innerhalb von wenigen Stunden mit gleicher Genauigkeit. Genau an diesen vielen einzelnen Problemen muss der Einsatz von KI ansetzen: Prozesse beschleunigen, Effizienz massiv steigern und Ressourcen freisetzen. Der Mensch soll dabei natürlich immer die letzte Instanz bleiben, um Missbrauch zu verhindern.

Eine KI-gestützte Verwaltung kann lähmende Workflows eliminieren und die Produktivität drastisch erhöhen. Eine KI-Strategie auf Bundesebene allein löst es nicht. Es braucht die Revolution von unten. Aus den Kommunen, aus der Mitte der Gesellschaft. Nur durch einen kollektiven Kraftakt und ein Ressourcensammeln der besten Tools, Ideen und Köpfe aus Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft kann das volle Potenzial auch ausgeschöpft werden.

„Roadmap Agile Demokratie 2025+“: Der radikale Umbau ist möglich

Mit der nächsten Bundesregierung 2025 startet Deutschland idealerweise eine KI-Revolution. Eine KI-Taskforce im Kanzleramt übernimmt die Koordination aller KI-Initiativen über Ministerien und Behörden hinweg. Die Staatsmodernisierung muss Chefsache sein wie damals die Agenda 2010. Schluss mit Fragmentierung und Kleinstaaterei – klare Zuständigkeiten, mit gutem Beispiel und KI-Workflows und regelmäßige Effizienzprüfungen. Ein zweistelliges Milliarden-Sondervermögen bis 2030 treibt die KI-Strategie voran. Dieses Budget fördert die Entwicklung und Implementierung von KI-Technologien mit Fokus auf Stärkung unserer kommunalen Strukturen. Ziel: Unseren Staat, unser Bildungswesen, unsere Verteidigung und Partizipation auf allen Ebenen zu revolutionieren und KI vollständig und nachhaltig zu integrieren. Im Sinne unserer Demokratie.

Standardisierte Datenformate und Schnittstellen sichern die Kompatibilität von KI-Systemen. KI-Anwendungen für Bürgerdienste machen Behördengänge deutlich schneller und effizienter. Ein Interface, bei dem der Bürger alle Dienstleistungen unkompliziert nutzen kann. Eine KI-Aufsichtsbehörde gewährleistet verantwortungsvolle Nutzung und berichtet direkt an den Bundestag. Das Personalwesen im öffentlichen Dienst wird drastisch flexibilisiert. Eine zentrale Expertendatenbank erleichtert die Integration von KI-Talenten auf den notwendigen Projekten. Der öffentliche Sektor vertieft die Zusammenarbeit mit KI-Start-ups und Innovationsinkubatoren, unterstützt durch maßgeschneiderte Rahmenverträge und Förderprogramme.

2025 beginnt die Ära der agilen, KI-gestützten Demokratie. Deutschland muss Künstliche Intelligenz zur Top-Priorität machen und „AI made in Germany“ zum Synonym für technologische und demokratische Innovation weltweit. Sind wir bereit?

Juri Schnöller ist Unternehmer und Kampagnenexperte. Er berät mit seinen Firmen „Cosmonauts & Kings“ und der „Mut:Republik“ zahlreiche Politiker, Ministerien, Parteien und Unternehmen und ist Mitinitiator der gemeinnützigen Organisation „AI4Democracy“.

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