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Digitalisierung & KI

Standpunkte Die Umsetzung beginnt jetzt

Kirsten Rulf, BCG
Kirsten Rulf, BCG Foto: BCG

Eine europäische KI-Regulierung kommt in jedem Fall bis Ende des Jahres. Unternehmen sollten sich jetzt schon vorbereiten, meint Kirsten Rulf in ihrer neuen Rolle als Strategieberaterin. Auch sollten sie in den Dialog mit den Regulierungsbehörden treten, um gemeinsam Standards zu entwickeln, die schützen und gleichzeitig Raum für Innovationen lassen.

von Kirsten Rulf

veröffentlicht am 18.07.2023

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ChatGPT, Midjourney, Microsoft Copilot und andere Tools auf Basis von generativer KI haben eine Debatte um die Regulierung der Technologie ausgelöst, die kontrovers und oft auch emotional geführt wird. Dennoch wird insbesondere generative KI zweifellos schon in wenigen Monaten selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags sein. Permanent kommen Tausende neue Anwendungen hinzu.

Es gibt längst nicht mehr nur Chatbots für Texterstellung und Bildergenerierung. Die automatische Analyse und Visualisierung von großen Datensätzen zum Beispiel war noch vor wenigen Wochen eine Aufgabe für Data Scientists. Heute kann jeder entsprechende Plug-ins mit der passenden Version von ChatGPT nutzen. Unternehmen, die solche Tools und Anwendungsfälle nicht einführen, werden schon bald nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Europa darf sich hier nicht abhängen lassen.

Gleichzeitig sorgen sich Regierungen, Unternehmensverantwortliche und selbst Entwickler:innen um das Missbrauchspotenzial von generativer KI. Sie stellen sich die Frage, wie zukünftige, noch mächtigere KI-Modelle sicher, fair und transparent entwickelt werden können. Und das mit gutem Grund.

Klar ist deshalb: Eine KI-Regulierung kommt, sowohl in der EU als auch global. Wer jetzt noch abwartet oder diskutiert, der verliert wertvolle Zeit für die KI-Transformation der eigenen Organisation. Jetzt ist der Zeitpunkt, sich strategisch vorzubereiten, Software-Entwicklungsprozesse auszurichten sowie neue Rollen, Governance und Standards selbst einzuführen und aktiv mitzugestalten.

Regulierung ganzheitlich denken

Erstens: Unternehmen sollten jetzt für sich ein integriertes, ganzheitliches und global adaptierbares KI-Rahmenwerk schaffen. Die KI-Verordnung der EU ist zum Beispiel Teil eines komplexen Portfolios von Vorschriften, zu dem auch der nun fertig gestellte Data Act, der Digital Services Act und der Digital Markets Act gehören, genauso wie bestehende Gesetze, etwa die DSGVO oder die NIS-2-Richtlinie. Um dieses ganzheitliche Regelwerk beherrschen zu können, brauchen Unternehmen automatisierte und vollständig digitalisierte Verfahren. Neben einem strategisch gut durchdachten Tech-Stack sollte ein „Regulierungsstack“ stehen, das Prozesse, Strukturen, Gesetze und Vorschriften abdeckt. Ziel sollte es sein, bei neuen KI-gesteuerten Produkten oder Dienstleistungen automatisiert zu prüfen, ob sie konform mit geltenden Regularien gehen, anstatt Hunderte von Artikeln immer wieder für jeden Fall erneut oder gar manuell auszuwerten. Ein solcher integrierter „Regulierungsstack“ funktioniert für Tausende von KI-Algorithmen und Produkte gleichzeitig. Große US-Unternehmen arbeiten bereits daran, seit die KI-Verordnung Anfang 2021 zum ersten Mal von der EU-Kommission vorgelegt wurde. Für europäische Unternehmen gilt es nun, nachzuziehen und ein ganzheitliches Betriebsmodell für generative KI zu entwickeln, das die Transformation im Unternehmen lenkt.

Komplexe Rechtslage für internationale Unternehmen

Zweitens: Global tätige Unternehmen müssen die Vorschriften in jedem Land, in dem sie tätig sind, überwachen und einhalten. Die Rechtslage ist bereits innerhalb der EU komplex. Auf globaler Ebene ist sie aufgrund unterschiedlicher Vorschriften, die sich teils auch widersprechen können, noch vielschichtiger. So schreibt beispielsweise Digital Services Act der EU eine strenge Moderation von Online-Inhalten vor und nimmt die Plattformunternehmen für Inhalte, die sie teilen, in die Haftung. Im Gegensatz dazu bietet der U.S. Communications Decency Act den Plattformunternehmen eine weitgehende Immunität von der Haftung, sodass sie Inhalte frei moderieren können.

Natürlich erfordert der Aufbau eines solchen Rahmenwerks erhebliche Vorabinvestitionen. Mittel- und langfristig lassen sich damit aber Zeit und Kosten einsparen: Neue KI-gesteuerte Produkte oder Dienstleistungen lassen sich schneller einführen, da die Prüfung auf Rechtskonformität zumindest teilweise automatisiert werden kann – auch im großen Maßstab. Nicht zuletzt sind Unternehmen auch besser auf künftige Entwicklungen vorbereitet. Wird eine neue Vorschrift eingeführt, können sie die aktualisierten Anforderungen mit dem bestehenden Rahmen abgleichen und festlegen, wie die Neuerungen regelkonform integriert werden sollen.

Die Expertise der Wirtschaft ist gefragt

Drittens: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um in einem produktiven Dialog mit den Regulierungsbehörden zusammenzuarbeiten. Jetzt haben Unternehmen die Möglichkeit, gemeinsam an Standards zu arbeiten, die wirksame Schutzmaßnahmen bieten und gleichzeitig Raum für Experimente und Innovationen lassen. Denn das Herz der KI-Verordnung schlägt in Standardsetzungsgremien. Bisher bringt sich die Wirtschaft hier noch zu wenig ein. Für Unternehmen gilt es jetzt, die Standards aktiv mitzuprägen, an die sie sich demnächst halten müssen.

Teilen Unternehmen dagegen ihr technisches Know-how, ihre praktischen Erkenntnisse und ihre Risikobewertungen stärker mit den Regulierungsbehörden, profitieren alle davon. KI ist technologisch komplex und entwickelt sich schnell weiter. Unternehmen, die an und mit KI-Lösungen arbeiten, haben einen einzigartigen Einblick in die Nuancen und Grenzen dieser Technologie. Dieses Fachwissen ist für die Regulatoren von unschätzbarem Wert, um die Förderung von Innovationen mit der Berücksichtigung gesellschaftlicher Belange ins Gleichgewicht zu bringen. Eine solche Zusammenarbeit ist eine Gelegenheit, Vorschriften zu entwickeln, die für beide Seiten vorteilhaft und technologisch machbar sind.

Viertens: In der KI-Verordnung ist auch vorgesehen, Reallabore zu schaffen. Hier bleibt die Verordnung noch vage. Unternehmen, die sich im Prozess der KI-Transformation befinden, aber vor allem auch Start-ups sollten jetzt aktiv damit beginnen, diese Möglichkeiten einzufordern, um Innovationen zu fördern und Experimentierräume zu schaffen.

KI-Regulierung, ob europäisch, transatlantisch oder global, wird der Entwicklung der Technologie immer hinterherhinken und sie nie ganz abbilden können. Unternehmen und Behörden sollten die bevorstehenden KI-Richtlinien aber nicht nur als Restriktion, sondern auch als Möglichkeit begreifen, die zukünftigen Rahmenbedingungen mitzugestalten. Für CEOs, die sich für eine Zusammenarbeit entscheiden, stellt die jetzige Dynamik eine erhebliche Chance dar. Für politische Entscheidungsträger ist das die Gelegenheit, stärker mit denen zusammenzuarbeiten, die KI entwickeln und nutzen.

Kirsten Rulf ist seit dem Frühjahr 2023 Partner and Associate Director bei der Boston Consulting Group. Zuvor hat sie das Referat Grundsätze der Digitalpolitik im Bundeskanzleramt geleitet. 

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