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Energie & Klima

Standpunkte Ziele zuerst

Individuelle Verantwortung der Mitgliedsstaaten – weniger kollektive Ziele für die EU – sind Voraussetzung für eine erfolgreiche EU Klimapolitik. Die Erhöhung der Reduktionsziele für Mitgliedsstaaten sollte Ausgangspunkt der Überarbeitung der EU Klimapolitik sein, nicht eine diffuse Diskussion zur Ausweitung des Emissionshandels, schreibt Nils Meyer-Ohlendorf.

von Nils Meyer-Ohlendorf

veröffentlicht am 29.03.2021

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Die EU-Klimapolitik dreht sich um viele Dinge, aber sie hat ein Gravitationszentrum: Rechtsverbindliche Reduktionsziele. Sie sind für die Mitgliedstaaten für die Jahre 2030 und künftig auch für 2040 und 2050 der Drehpunkt der EU-Klimapolitik.

Trotzdem ist es nicht sicher, ob Mitgliedstaaten auch nach 2030 durch nationale Ziele gebunden sein werden, wie sie in der EU-Klimaschutzverordnung – auch Lastenteilung genannt – festgelegt sind. Sie umfasst rund 60 Prozent aller Emission in der EU. Es ist zum Beispiel unklar, wie sich eine Ausdehnung des Emissionshandels auf Straßenverkehr und Gebäude auf nationale Ziele auswirken könnte.

Sind nationale Reduktionsziele noch erforderlich, wenn ein Emissionshandelssystem auch Straßenverkehr und Gebäude abdeckt, mit der möglichen Folge, dass allein die Restemissionen aus Landwirtschaft, Abfall und Industrie durch nationale Ziele erfasst werden? Sollen diese durch ein eigenes Zielsystem geregelt werden? Sollten vor diesem Hintergrund nationale Ziele auslaufen, wie es etwa Dänemark vorschlägt?

Kein Spieler ist so wichtig wie die Mitgliedsstaaten

Die Versuchung, neue EU Ziele nicht in nächtelangen Verhandlungen auf Mitgliedsstaaten zu verteilen, ist groß. Niemand möchte gerne eine neue Verhandlungsrunde mit ungewissem Ausgang. Aber in einem Moment, in dem die EU ihre Klimabestrebungen erheblich erhöht, darf die EU-Klimaarchitektur nicht geschwächt werden. Sie muss gestärkt werden. Reduktionsziele für die Mitgliedstaaten müssen der Ausgangspunkt für die Überarbeitung der EU Klimapolitik sein –  aus vier Gründen:

Erster Grund.: Die EU Klimapolitik hat viele Spieler, aber kein Spieler ist so wichtig wie die Mitgliedsstaaten. Sie sind Gesetzgeber und Gesetzesumsetzer. Ohne sie geht in der EU fast nichts, nicht nur weil die Mitgliedsstaaten eine herausgehobene Rolle in der EU haben, sondern auch weil es ohne sie unmöglich ist, die Klimaziele zu erreichen.

Aus dieser herausgehobenen Stellung folgt, dass Mitgliedsstaaten auf transparente und politisch wirksame Weise verantwortlich und rechenschaftspflichtig bleiben müssen. Es ist klar, dass Mitgliedsstaaten auch künftig durch viele EU-Regeln mit Relevanz für Klimaschutz gebunden sein werden – etwa in den Bereichen Energieeffizienz oder erneuerbare Energien. Aber nur nationale Reduktionsziele können Mitgliedstaaten für ihre klimapolitischen Gesamtanstrengungen auf politisch wirksame Weise zur Rechenschaft ziehen. Im Gegensatz zu anderen EU-Politiken machen sie Schlagzeilen, stehen in Wahlprogrammen und ermöglichen öffentliche Debatten zur gesamten Klimapolitik eines Landes.

Zweiter Grund: Vertragsverletzungsverfahren dauern lang, sind kompliziert und führen nicht automatisch zum erwünschten Erfolg. Trotzdem bleiben Vertragsverletzungsverfahren das schärfste Schwert der EU, um Regeln durchzusetzen. Mitgliedsstaaten nehmen diese Verfahren ernst. Nur Vertragsverletzungsverfahren können zur Zahlung von Zwangsgeldern führen.

Allerdings setzen Vertragsverletzungsverfahren voraus, dass eine Rechtsverletzung durch einen Mitgliedsstaat im Raum steht. Ohne Rechtspflicht kein Vertragsverletzungsverfahren. Für die Klimapolitik bedeutet dies, dass allein rechtsverbindliche Ziele Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahren sein können. Kollektive EU-Ziele können dagegen nicht durch Vertragsverletzungsverfahren durchgesetzt werden.

Dies ist politisch ein wichtiger Punkt. Denn das gerade verhandelte EU-Klimaschutzgesetz sieht nach dem Willen von Rat und Kommission allein kollektive Ziele für die EU vor – Klimaneutralität für die EU bis 2050 und ein neues 2030 Ziel für die EU. Die Position von Rat und Kommission enthalten keine rechtlich verbindlichen Ziele für Mitgliedsstaaten und entsprechend keine Vertragsverletzungsverfahren. Es gäbe demnach nach 2030 allein unverbindliche Empfehlungen der Kommission an die Mitgliedsstaaten. Ein solches System der kollektiven Verantwortung kann schnell zu einem System kollektiver Verantwortungslosigkeit werden.

Dritter Grund: Nationale Reduktionsziele sind ein bewährtes Instrument. Sie haben geholfen neue Maßnahmen einzuführen und alte zu verbessern. Bereits dies spricht für ihre Erhaltung. Hinzu kommt, dass sie jetzt und sofort zur Verfügung stehen. Dies gilt nicht für die Ausweitung des Emissionshandels auf Gebäude und den Straßenverkehr. Dieses System wird kaum vor 2025 einsatzbereit sein. Da die 2020er Jahre für die Erreichung neuer Klimaziele entscheidend sind, ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ein bewährtes System durch ein neues mit vielen Unbekannten zu ersetzen.

Vierter Grund: Mitgliedsstaaten setzen EU-Klimapolitik zum großen Teil in eigener Verantwortung um. Dies ist ein Grundprinzip der EU. Es ist die beste Methode, den unterschiedlichen Gegebenheit vor Ort Rechnung zu tragen. Aber Eigenverantwortung und Ownership sind nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist es, Trittbrettfahren zu verhindern. Nationale Reduktionsziele stellen die Balance zwischen Eigenverantwortung und angemessenen Beiträgen aller Mitgliedsstaaten zur Zielerreichung her. Sie sind auch ein Beitrag für Wettbewerbsgleichheit in der EU.

Schwieriger Diskussion nicht ausweichen

Aus diesen Gründen müssen nationale Ziele der Ausgangspunkt für die Überarbeitung der EU-Klimapolitik sein. Das Gravitationszentrum der EU Klimapolitik darf nicht ausgerechnet dann verschoben werden, wenn die EU höhere Ziele erreichen muss. Wenn die EU ernsthaft zu ihren neuen Zielen steht, dann ist der Lackmustest „Zielverteilung“ keine unüberwindbare Hürde.

„Targets first“ bedeutet dabei nicht, dass die Ausweitung des Emissionshandels auf neue Sektoren oder stärkere Kohlenstoffbepreisung generell vom Tisch ist. Je nach Ausgestaltung kann ein Emissionshandel für Gebäude und Straßenverkehr den klimapolitischen Instrumentenmix der EU sinnvoll ergänzen. „"Targets first“ bedeutet indes, dass eine diffuse Emissionshandelsdiskussion nicht die Fortschreibung klarer individueller Verantwortung der Mitgliedsstaaten verhindern darf. Diese Gefahr ist real

Warum Ziele für Mitgliedsstaaten an EU Ziele anpassen, wenn irgendwie und irgendwann ein Emissionshandel kommen könnte? Diese Frage steht dann im Raum.

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