Die EU muss bis 2050 klimaneutral werden. Klimaneutralität bedeutet, dass Treibhausgasemissionen und Entnahmen ausgeglichen sein müssen. Im Jahr 2050 müssen die EU-Emissionen also auf netto null reduziert sein. So lauten die Vorgaben des EU-Klimagesetzes.
Was wie eine klare Definition erscheint, ist aber tatsächlich eine Gleichung mit Unbekannten. Wieviel CO2 will die EU im Jahr 2050 entnehmen? Wie hoch sind Restemissionen? Soll der Anteil der CO2-Entnahme 20 Prozent oder 5 Prozent betragen; sollen Reduktionen entsprechend bei 80 oder 95 Prozent liegen? Welche Bedingungen müssen Entnahmen erfüllen, um für die Zielerreichung angerechnet werden zu können? Und wie soll CO2 entnommen werden?
Für die Jahre bis 2030 gibt das EU-Recht einige Antworten. Das EU-Klimagesetz bestimmt, dass Entnahmen von maximal 225 Megatonnen für die Erreichung des 2030 Klimaziels angerechnet werden dürfen.
Zu der Zeit nach 2030 schweigt das EU-Recht. Die Kommission hat in ihrer Mitteilung zu Kohlenstoffkreisläufen Mitte Dezember aber Hinweise gegeben, wie der EU-Rahmen für die CO2-Entnahme nach 2030 aussehen könnte.
Zertifizierung, Bilanzierung, Überprüfung
Zum einen macht die Mitteilung klar, dass Klimaneutralität in erster Linie durch Emissionsreduktionen hergestellt werden muss. In diesem Zusammenhang enthält die Mitteilung einen allgemeinen Hinweis auf die EU-Langfriststrategie, wonach die EU für Klimaneutralität ihre Emissionen um 95 Prozent bis 2050 reduzieren müsse. CO2-Entnahmen soll dort ergänzend wirken, wo Restemissionen nicht mehr zu vertretbaren Kosten reduziert werden können.
Zum anderen sagt die Mitteilung, dass Zertifizierung, Bilanzierung und Überprüfung von CO2-Entnahmen zentrale Bausteine der EU-Entnahmearchitektur werden müssen. Hierfür wird die Kommission bis Ende 2022 einen Regelungsvorschlag vorlegen. Dieser Vorschlag soll zu einer einheitlichen und robusten Zertifizierung von CO2-Entnahme in der EU führen. Nach dem Willen der Kommission sollen Landnutzer zudem bis 2028 Zugang zu verifizierten Emissions- und Entfernungsdaten haben. Außerdem soll bis 2028 jede Tonne CO2, die von der Industrie abgeschieden, transportiert, verwendet und gespeichert wird, bilanziert werden. Diese und weitere Ideen will die Kommission 2022 zur Diskussion stellen.
Auf die weiteren Fragen gibt die Mitteilung keine Antworten. Sie enthält nur wenig zu der Frage, welche Entnahmemethoden die EU bevorzugen soll. Es macht aber einen großen Unterschied für Biodiversität, Bodenschutz und Klimaresilienz von Ökosystemen, ob CO2 etwa durch Aufforstungen in Monokulturen oder durch die Wiederherstellung beschädigter Ökosysteme entnommen wird. Für eine dauerhafte Speicherung von Kohlenstoff ist es erheblich, ob die Speicherung in Biomasse, Plastik oder geologischen Formationen erfolgt.
Die Mitteilung schweigt weitgehend zu Haftungsfragen. Wer haftet, wenn entzogenes CO2 wieder in die Atmosphäre entweicht? Was sind die Voraussetzungen für die Haftung und was sind ihre Rechtsfolgen? Für ein robustes Entnahme- und Speicherregime sind aber die Haftungsregeln ein zentraler Baustein. Mit ihrer Beantwortung steht oder fällt die Effektivität des Systems.
Natürliche CO2-Senken sind fragil
Die Mitteilung schweigt nicht nur zu diesen Fragen, sondern stellt die Weichen für die weitere Debatte teilweise in die falsche Richtung: Die Kommission geht davon aus, dass CO2-Entnahme Emissionen kompensieren könne. Solange die Zertifizierung von Entnahmen stimme, könnten Emissionen durch Entnahme neutralisiert werden. Diese Annahmen sind problematisch.
Entnahme und Emissionen sind grundsätzlich unterschiedlich. Sie sind wie unterschiedliche Währungen, die nicht 1:1 auf das gleiche Ziel eingezahlt werden können.
Im Vergleich zu Kohlenstoff, der in Öl, Gas und Kohle im Boden gespeichert ist, ist seine Speicherung in natürlichen Senken nicht sicher von Dauer. Waldbrände, Dürren, Nutzungsänderungen oder Insektenbefall können fast über Nacht den in Biomasse gespeicherten Kohlenstoff wieder freisetzen. Die Dauerhaftigkeit der Speicherung ist auch ein Problem für technische Senken, etwa, wenn abgeschiedenes CO2 in Plastik oder unsicheren geologischen Formationen gespeichert wird. Theoretisch können technische Senken diese Probleme zwar lösen. Da aber sowohl die erforderliche Infrastruktur als auch saubere Energie in der nötigen Menge fehlen, ist dies bestenfalls Zukunftsmusik.
Im Vergleich zur Reduktionen von Emissionen ist es zudem schwierig, die CO2-Entnahmeleistungen von natürlichen Senken verlässlich zu messen – gegenwärtig die einzig relevante Form der Entnahme. Außerdem: Mit der Höhe der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Klimakipppunkte erreicht werden und die Klimakrise sich selbst beschleunigt – eine Entwicklung, die wahrscheinlich nur durch Reduktionen verhindert, aber kaum durch Entnahmen repariert werden kann.
Kurzum: Die Mitteilung der Kommission verengt die Debatte auf Zertifizierungsfragen und gibt ihr ein problematisches Framing. Mit diesem falschen Framing erschwert sie eine Debatte, die einerseits die Notwendigkeit der CO2-Entnahme anerkennt, aber anderseits deutlich zwischen Reduktionen, Entnahme und Entnahmemethoden unterscheidet.
In getrennten Systemen denken
Für die weitere Debatte ist es besser, in Systemen zu denken, die zwischen Reduktion und Entnahme trennen. Dies beginnt mit getrennten Zielen für Reduktionen und Entnahmen – für die EU und ihre Mitgliedsstaaten und für 2040 und 2050. Das 2030-Klimaziel der EU mit einer klar quantifizierten Maximalmenge für Entnahme kann hier Pate stehen. In diesem System ist in klarer und rechtlich verbindlicher Weise festgelegt, welche Beiträge Reduktionen und Entnahmen für die Zielerreichung leisten. Auf diese Weise wird der Sorge begegnet, dass Entnahmen Reduktionen verzögern. Die Entnahme-Debatte wird versachlicht.
In einem abgetrennten System ist dann vieles möglich: Anreize für Entnahme – etwa Entnahme als Geschäftsmodell, Handel mit Entnahmezertifikaten, Subventionen oder die Verpflichtung zur Entnahme für einzelne Akteure – können klimapolitisch bedenkenlos gesetzt werden.
Klimapolitisch ist es wichtig, dass die Weichen zu einem getrennten System zu Beginn richtig gestellt werden. Denn Klimaneutralität aller großen Volkswirtschaften bis Mitte des Jahrhunderts ist nur der erste Schritt, um das Gleichgewicht des Klimas zumindest teilweise wiederherzustellen. Nach 2050 wird die Entnahme von CO2 das zentrale Handlungsfeld der Klimapolitik werden. Das mag heute exotisch erscheinen, ist aber bereits im EU-Klimagesetz angelegt und für die Wiederherstellung des Klimas unabdingbar.