Die Ausarbeitung der Strom- und Gaspreisbremse hat den Mangel an Messdaten und digitalen Kommunikationskanälen schonungslos offengelegt: Mit Jahresverbrauchswerten und Kundenkommunikation über Briefe lassen sich dynamische Tarife oder Gutscheine für energiesparendes Verhalten weder zeitnah umsetzen noch wirkungsvoll evaluieren.
Von politikbasierter Evidenz zu evidenzbasierter Politik
Der jüngst vom Kabinett verabschiedete und gerade vom Bundesrat mit Ergänzungswünschen versehene Gesetzesentwurf zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende verspricht nun einen großen digitalen Schritt vorwärts. Tatsächlich thematisiert das Gesetz jedoch vor allem digitale und kommunikationsfähige Stromzähler, was den Digitalisierungsgrad des Energiesystems bestenfalls von minus 5 auf minus 2 verbessern dürfte.
Einen deutlich umfassenderen Einsatz digitaler Technologien empfehlen beispielsweise das Thesenpapier Digitalisierung des Energiesystems des Fraunhofer Exzellenzcluster CINES oder die Studie Dekarbonisierung durch Digitalisierung des Fraunhofer FIT und TenneT. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission zum Monitoring-Prozess Energie der Zukunft in ihrer jüngsten Stellungnahme zum zukünftigen Strommarktdesign.
Analoge Energieinfrastruktur verhindert Systemintegration
Der Handlungsdruck ist hoch. In den nächsten Jahren drohen immer mehr Kilowattstunden CO2-frei erzeugten Stroms sowie das Lastverschiebungspotenzial aus Wärmepumpen, PV-Batteriespeichern oder Elektrofahrzeugen marktlich und netzdienlich ungenutzt zu bleiben. Für die aktive Einbindung der verfügbaren Flexibilität in Redispatch-Prozesse und (neue) Handelsmärkte wird jedoch ein digitalisiertes Messwesen nicht ausreichen: Damit ist ein kosteneffizienter, medienbruchfreier und rascher Wechsel von Anlagen zwischen diversen Marktrollen – das heißt von der Eigenversorgung zum Anbieten von Systemdienstleistungen zur Teilnahme an Handelsmärkten – schlicht nicht möglich.
Anlagen hinter dem Stromzähler können nicht digital identifiziert werden, und eine Kommunikation zwischen dem Marktstammdaten-Register (MaStR) und dem Smart Meter Gateway (SMGW) ist nicht vorgesehen. Dynamischen Tarifen zur Vermeidung von Netzengpässen sind damit auch nach einem erfolgreichen Smart-Meter-Rollout zu enge Grenzen gesetzt.
Das Register als mächtiges Instrument
Teil einer Lösung kann ein digital modernisiertes Marktstammdatenregister auf Basis digitaler Maschinenidentitäten sein. Ein kleiner industrieller Stromspeicher kann so innerhalb von Minuten zwischen Eigenverbrauch, netzstützenden Maßnahmen oder der Teilnahme am Großhandel wechseln. Gleichzeitig kann auf diese Weise der Stromspeicher auch schneller angemeldet werden und dabei helfen, den Arbeitsaufwand bei Netzbetreibern zu reduzieren. Ein Register ist auf den ersten Blick sicherlich kein politisch attraktives Thema. Auf den zweiten Blick ist es aber ein mächtiges Instrument, um Prozesskosten in der Energiewirtschaft zu senken, die Markteffizienz durch die Integration von Energieanlagen entscheidend zu erhöhen und damit den CO2-Gehalt des Stroms im Gesamtsystem deutlich zu senken.
Bei der Ende-zu-Ende Digitalisierung des Energiesystems muss nun die Modernisierung der Energieregister wie Marktstammdatenregister, Herkunftsnachweisregister, Wärmeregister und Wasserstoffregister konsequent in Angriff genommen werden. Es gilt, diese konsequent zu digitalisieren und interoperabel zu gestalten. Eine Blaupause für die Weiterentwicklung liefern zum Beispiel die Projekte Blockchain Machine Identity Ledger (BMIL) und Energy Data Spaces (ENDA) aus dem Future Energy Lab der Dena oder die Projekte Gaia-X und Catena-X. Bei denDatenräumen geht es generell darum, mittels einer Referenzarchitektur domänenübergreifend sehr viele Daten souverän, datenschutzkonform, bilateral und sicher auszutauschen.
Ein weiterentwickeltes Marktstammdaten-Register kann so das Identitätsmanagement für Energieanlagen übernehmen und auf diese Weise das Wechseln der Markt-Rollen auch bei stark steigenden Koordinationsanforderungen sicherstellen. Die Weiterentwicklung der Register bietet aber noch einen weiteren Vorteil: Sie erlauben die digitale Bereitstellung wertvoller Energiedaten für die Dekarbonisierung von Produktionsprozessen.
Von Carbon Counting zu Accounting und Management
Wenn heute Unternehmen Beschaffungs-, Produktions- und Investitionsentscheidungen treffen, dann besteht erhebliche Unsicherheit über die CO2-Emissionen, die mit der genutzten Energie verbunden sind. Denn es gilt: Berechtigungen zum CO2-Ausstoß bei der fossilen Stromerzeugung (EU-ETS) sind nicht gleich CO2-Fußbdrücke sind nicht gleich CO2-Kompensationskredite sind nicht gleich Grüne Strom-Herkunftsnachweise sind nicht gleich Produktpässe. Und diese Größen sind auch nur schwer ineinander zu überführen.
Die Folge sind viele Fehler und Greenwashing. Unternehmen teilen heute CO2-Daten vielfach noch in Form von Schätz- und Durchschnittswerten mittels Telefon, E-Mail und Excel statt Primärdaten über digitale Kanäle. Ein Wechsel zu digitalen Primärdaten inklusive einer effizienten, digitalen Verifikation kann Doppelzählungen und Fehler wirkungsvoll reduzieren.
Zusätzlich lassen sich vor dem Hintergrund der schnell steigenden Nachhaltigkeitsberichtspflichten durch digitalisierte Echtzeit-Energiedaten auch wirkungsvoll Kosten für das Reporting sparen. Schließlich werden Unternehmen schrittweise in die Lage versetzt, konkrete Produktionsentscheidungen auf Basis von CO2-Informationen in Echtzeit zu treffen, was Wettbewerbsvorteile verspricht.
Ein digitales Zielbild für ein klimaneutrales Stromsystem
Der Aufbau einer digitalen Energieinfrastruktur für ein dekarbonisiertes Energiesystem darf nicht bei der Digitalisierung des Messwesens stehen bleiben. Was wir rasch benötigen, ist ein digitales Zielbild und die Identifikation von Wegen, wie wir dort hingelangen. Es gilt, konkret die digitalen Freiheitsgrade für die Gestaltung eines klimaneutralen Stromsystems zu identifizieren und dann konsequent zu erproben.
Dabei dürfen wir die kulturellen Herausforderungen nicht unterschätzen: Es ist viel Mut erforderlich, lieb gewonnene Pfadabhängigkeiten zu überwinden und das für das schnelle Lernen notwendige Scheitern von Experimentieren auch auszuhalten. Gesellschaftlich müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, wie der digitale Sprung in ein klimaneutrales Stromsystem aussehen soll. Mit dem Ob sollten wir uns nicht länger aufhalten.
Jens Strüker ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Digitales Energiemanagement an der Universität Bayreuth, Leiter des Fraunhofer Blockchain Labors und stellvertretender Leiter des Institutsteils Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT.