Trotz Corona-Krise arbeitet die Europäische Kommission weiterhin mit Hochdruck am European Green Deal. Das ambitionierte Klimaschutzpaket wird die Transformation des europäischen Energiesektors deutlich beschleunigen, es wird Versorgern und Investoren neue Chancen für Kooperationen und Investitionen eröffnen, während gleichzeitig bestehende Investitionen teilweise entwertet werden. Besonders im Strommarkt wird der „Deal“ deutliche Spuren hinterlassen.
Bisher war es erklärtes Ziel der EU, bis 2030 die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 40 Prozent zu senken. Diese Ambitionen steigert der European Green Deal nun auf 50 bis 55 Prozent Emissionsminderung. Je nach Aufteilung der zu erzielenden Einsparungen auf die Sektoren – was zu kontroversen Diskussionen führen dürfte – bedeutet dies, dass die Beteiligten am europäischen Emissionshandel im nächsten Jahrzehnt ihre Emissionseinsparungen etwa verdoppeln müssen. Neben dem Stromsektor betrifft dies im Wesentlichen die Industrie und den innereuropäischen Flugverkehr.
Druck auf den Stromsektor steigt
Der größte Druck dürfte dabei auf dem Stromsektor lasten, denn die Vermeidung einer Tonne CO2 ist in Industrie und Flugverkehr teurer. Zudem ist die Elektrifizierung von Aktivitäten und Prozessen häufig der günstigste Weg für Sektoren wie Industrie oder Haushalte, ihre Emissionen zu senken. Das setzt aber wiederum einen sauberen Strommix voraus. In Summe erwarten wir, dass der europäische Stromsektor im Zuge des Green Deal seine Emissionen bis 2030 gegenüber 2018 mindestens halbieren muss.
Natürlich gibt es viele Wege, dieses Ziel zu erreichen, und gleichzeitig erhebliche Unsicherheiten: Wie entwickelt sich die Nachfrage? Wie die Rohstoffpreise? Welche Fortschritte gibt es bei Erneuerbaren und Speichertechnologien? Doch es gibt auch einige Dinge, die auf Zehnjahresfrist relativ sicher sind: Neue Atomkraftwerke dürften in diesem Zeitraum nicht zu realisieren sein – die zusätzliche CO2-freie Erzeugung muss also aus Erneuerbaren kommen. Die Regierungen dürften ihre Pläne zum Rückbau von Kohle- und Kernkraftkapazitäten umsetzen. Außerdem ist zumindest ein leichter Anstieg der Nachfrage durch weitere Elektrifizierung zu erwarten.
Erneuerbare als Gewinner, Kohle als Verlierer
Auf Basis dieser Überlegungen haben wir ein europäisches Stromsystem simuliert, mit interessanten Ergebnissen: Die großen Gewinner sind Erneuerbare – verglichen mit dem heutigen Strommix verdoppeln sie ihren Anteil auf über 60 Prozent und kommen damit in die Nähe dessen, was die Bundesregierung für 2030 in Deutschland anpeilt. Gaskraftwerke halten ihren Anteil konstant und erzeugen flexibel, wenn die Erneuerbaren nicht produzieren. Der Anteil der Kernenergie im europäischen Strommix sinkt dagegen von 25 auf 15 Prozent, was primär an den deutschen und französischen Rückbauplänen liegt.
Der große Verlierer ist die Kohle: Im beschriebenen Mix aus volatiler Erzeugung durch Erneuerbare und schnell anfahrenden Gaskraftwerken kann Kohlestrom sich immer seltener durchsetzen. Die Kohleverstromung sinkt im Vergleich zu 2018 um drei Viertel, selbst ohne weitere national regulierte Ausstiege. Hier ist erheblicher Widerstand zu erwarten, denn europaweit wurden im vergangenen Jahrzehnt 24 Gigawatt an neuer Kohlekraftwerksleistung zugebaut: Das sind mehr als 40 Milliarden Euro Investitionen, die mit Umsetzung des Green Deal von Entwertung bedroht sind. Entsprechend groß dürfte die politische Gegenwehr sein, insbesondere aus Osteuropa, wo die Existenz ganzer Energieversorger in Frage steht.
Flexible Kapazitäten für Versorgungssicherheit nötig
Angesichts der Erneuerbaren als Gewinner des Deals stellt sich die Frage, wie in einem solchen Markt die Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann. Entscheidend sind dabei die Windbedingungen, denn die jährliche Lastspitze findet in den meisten europäischen Ländern im Winter am frühen Abend statt; also zu einem Zeitpunkt, an dem die Solarenergie wenig bis nichts zur Versorgungssicherheit beiträgt. Damit kommt es umso mehr auf den Wind an.
Die Windbedingungen innerhalb von ganz Nordwesteuropa korrelieren stark miteinander, das heißt, an windstillen Tagen in Großbritannien liefern auch Windkraftanlagen in Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich nur wenig Strom. Dagegen besteht zu Regionen in Süd- und Südosteuropa eine negative Korrelation, das heißt, in Zeiten niedriger Einspeisung in Nordwesteuropa liegen in Italien, Slowenien oder Kroatien häufig gute Windbedingungen vor. Daraus ergibt sich, dass ein innereuropäischer Netzausbau nur in gewissem Maße zur Versorgungssicherheit beitragen kann, und zwar besonders dann, wenn er zwischen Nord- und Südeuropa stattfindet.
Zusätzlich braucht es jedoch flexible Kapazitäten, die bei Bedarf schnell anfahren, ausspeichern oder ihre Nachfrage reduzieren können. Der Green Deal setzt somit erneut die Frage auf die Agenda, welches Marktdesign Anreize für eine kosteneffiziente Bereitstellung solcher Kapazitäten schafft. Deutschland hält derzeit weiter am Energy-only-Markt (EOM) fest, während Frankreich, Irland, Polen, Italien und Belgien bereits dem britischen Beispiel gefolgt sind und Kapazitätsmärkte installiert haben. Fast noch wichtiger als die Frage „EOM“ oder Kapazitätsmarkt ist jedoch, ob ein konsistenter europäischer Ansatz gefunden wird, denn Versorgungssicherheit kann künftig noch weniger als heute in nationalen Leistungsbilanzen definiert werden.
Neue Finanzierungswege gefragt
Doch es stellt sich nicht nur die Frage nach dem Marktdesign – relevant ist auch, welche Akteure diese Transformation ermöglichen können. Für den European Green Deal müssen europaweit allein 400 Milliarden Euro in Erzeugungskapazitäten investiert werden, davon 280 Milliarden Euro in Nordwesteuropa. Diese Summen werden die Investitionsfähigkeit vieler Energieversorger übersteigen. Gerade in Ost- und Südosteuropa haben die meisten nationalen Energieversorger ein Kreditrating unterhalb der Investment Grade und könnten den Umbau ihrer Energiesysteme vermutlich nicht stemmen. So hat der größte polnische Versorger PGE in diesem Kontext vor einigen Tagen gemahnt, dass ihm ohne zusätzliche europäische Investitionshilfen die Pleite droht.
Öffentliche Mittel können hier helfen, sind aber kein Allheilmittel. Es wird auch darum gehen, private Mittel möglichst effektiv zu mobilisieren. Erste Beispiele für diesen Trend lassen sich schon heute beobachten. Zum einen beginnen die großen finanzstarken Öl- und Gaskonzerne, sich im Strommarkt zu engagieren. Shell kaufte das Solarspeicher-Start-up Sonnen, BP den Solarentwickler Lightsource. Am radikalsten hat diesen Schritt wohl Ørsted vollzogen. Das ehemalige dänische Öl- und Gasunternehmen ist zum weltweit führenden Entwickler von Offshore-Windparks geworden.
Ein zweiter Trend betrifft Akteure, die bisher Strom lediglich nachgefragt haben: Unternehmen wie IKEA und Google agieren zunehmend direkt auf dem Strommarkt, stellen ihren Strombezug über Herkunftsnachweise oder langfristige Lieferverträge (PPAs) auf Grünstrom um oder erzeugen diesen gleich selbst. Für Versorger ergibt sich daraus einerseits eine Bedrohung, da sie einen Teil der Industrie als Abnehmer verlieren. Andererseits entstehen aber auch neue Geschäftsmodelle, beispielsweise in der Bündelung oder in der Verstetigung von grünem Strom in PPAs.
Drittens bilden sich neue Partnerschaften: So kooperiert der polnische Energieversorger
PGE beim Bau von Offshore-Windparks mit Ørsted, während Polenergia mit Equinor
zusammenarbeitet. Aber auch der Finanzsektor beteiligt sich zunehmend direkt an
der Entwicklung von Kraftwerken. Beispielsweise hat der Infrastrukturinvestor Partners Group den deutschen
Projektentwickler VSB übernommen; in
einer ähnlichen Transaktion beteiligte sich Morgan Stanley Infrastructure
Partners am Entwickler PNE. Auch die Steag
entwickelt in Südostasien Projekte in Kollaboration mit dem australischen
Finanzdienstleister Macquarie. Wir
erwarten im Zuge des European Green Deals vermehrt solche Allianzen zwischen finanzkräftigen Partnern und solchen, die
technische oder lokale Expertise haben.