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Energie & Klima

Standpunkte Der Wasserstoff-Stillstand muss überwunden werden

Graham Weale, Professor für Energiewirtschaft am Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE), Ruhr-Universität Bochum
Graham Weale, Professor für Energiewirtschaft am Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE), Ruhr-Universität Bochum Foto: André Laaks

Graham Weale hält die aktuellen Pläne für den Hochlauf des Wasserstoffmarktes auf Basis grünen Wasserstoffs für unbezahlbar und extrem unrealistisch. Der Professor für Energiewirtschaft am Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE) der Ruhr-Universität Bochum schlägt einen Vier-Punkte-Plan zur Überwindung der Hemmnisse vor.

von Graham Weale

veröffentlicht am 28.06.2024

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Es gibt verschiedene Arten von Wasserstoff. Im Vordergrund stehen in Deutschland vor allem grüner und blauer Wasserstoff, die durch Elektrolyse von erneuerbarem Strom beziehungsweise durch die Verarbeitung von Erdgas mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) erzeugt werden. Der Schwerpunkt liegt derzeit auf grünem Wasserstoff, der aktuell von der EU allein als wirklich nachhaltig betrachtet wird.

Doch seit dem Jahresanfang mehren sich hinsichtlich des Ausbaus dieses Energieträgers die Rückschläge. Dies belegen verschiedene Ankündigungen der letzten Zeit, mit denen der konkrete Ausbau immer weiter zurückgeschraubt wurde. Uniper, RWE und Shell haben große Projekte verlegt oder abgesagt. Deutschland ging bei der ersten Auktion der EU-Hydrogen-Bank leer aus, nachdem es mit rund zwölf Euro pro Kilogramm Wasserstoff (H2) eines der höchsten Gebote abgegeben hatte.

Die Genehmigung staatlicher Beihilfen durch die EU für das 20 Milliarden Euro teure und 9700 Kilometer lange Wasserstoff-Kernnetz ist hingegen ein Lichtblick. Allerdings ist ungewiss, in welchem ​​Tempo das Netz gebaut wird, und es wird die grundlegenden Probleme mit den Kosten und der Verfügbarkeit von Wasserstoff nicht lösen.

Für Deutschland ist das Projekt Neom zur Erzeugung grünen Ammoniaks in Saudi-Arabien derzeit die einzige potenzielle grüne Energieversorgung nennenswerter Größenordnung mit einer Final Investment Decision (FID). Hier können 1,2 Millionen Tonnen grünes Ammoniak erzeugt werden, von denen ein Teil nach Hamburg geliefert werden soll, um dort zu grünem Wasserstoff gecrackt zu werden. Eine FID für den Cracker liegt aber noch nicht vor.

Raus aus dem Wunschtraum

Ansonsten gibt es aktuell in Deutschland vor allem unerfüllte Wünsche und Pläne, bis 2030 rund 70 Terawattstunden grünen Wasserstoff zur Verfügung zu haben. So bleibt der angestrebte Hochlauf des deutschen Wasserstoffmarktes nur ein Wunschtraum. Was ist vor diesem Hintergrund zu tun, um den Stillstand zu überwinden?

  • Erstens muss eine Diskriminierung blauen Wasserstoffs vermieden werden.
  • Zweitens muss die Einführung von kohlenstoffarmem Wasserstoff und Ammoniak auf Hafengebiete konzentriert werden.
  • Drittens muss Wasserstoff entsprechend seinem CO2-Fußabdruck über den gesamten Lebenszyklus klassifiziert werden, nicht entsprechend den prozessbezogenen Farben.
  • Viertens sollten die restriktiven Erneuerbare-Energien-Richtlinien (RED-II und III) angepasst werden, sobald die neue EU-Kommission im Herbst ihr Amt antritt.

Eine Kosten-Nutzen-Analyse ist für die Energiewende von größter Bedeutung. In dieser Hinsicht schneidet grüner Wasserstoff im Vergleich zu seiner blauen Alternative schlecht ab. Der CO2-Fußabdruck jeder Wasserstoffquelle über den gesamten Lebenszyklus muss berücksichtigt werden, einschließlich der Emissionen, die bei der Herstellung der verschiedenen Anlagen in der Produktionskette entstehen.

Entgegen weit verbreiteter Meinung ist grüner Wasserstoff auf dieser Basis nicht komplett CO2-frei: Der CO2-Fußabdruck liegt im Bereich bei 0,5-1,0 Kilogramm CO2 pro Kilogramm H2. Blauer Wasserstoff ist bereits ein relativ sauberer Energieträger mit einem CO2-Fußabdruck von 1,2 bis 3,9 kg CO2/kg H2 (im Vergleich zu 9,2 bis 11,0 kg CO2/kg H2 für das graue Äquivalent). Nimmt man die Mittelwerte beider Bereiche, so beträgt die Differenz nur 1,8 kg CO2/kg H2, sodass der Vorteil des grünen Wasserstoffs gegenüber der blauen Alternative nur gering ist.

Keine Diskriminierung blauen Wasserstoffs

Entscheidend ist jedoch, dass die zusätzlichen Kosten für Grün im Vergleich zu Blau circa 8,9 Euro pro Kilogramm betragen, das heißt 4,9 Euro je eingespartes Kilogramm CO2 oder fast 5000 Euro je Tonne CO2 – ein sehr hoher Preis für einen relativ kleinen zusätzlichen Nutzen und weit entfernt vom aktuellen CO2 Preis von 50 bis 70 Euro je Tonne.

Der EU-Ansatz für Wasserstoff ist stark auf grünes H2 ausgerichtet; bis 2030 müssen mindestens 42 Prozent des gesamten industriellen Wasserstoffverbrauchs aus erneuerbaren Energieträgern nicht biogenen Ursprungs (RFNBO) bestehen. Im Vergleich zu den begrenzten Umweltvorteilen gegen blauen Wasserstoff wird dies sehr teuer.

Düngemittelhersteller in Deutschland, die stark auf Ammoniak als Vorprodukt setzen, haben bereits erklärt, dass grünes Ammoniak (welches grünen Wasserstoff benötigt) viel zu teuer ist und dass sie mit dem blauen Äquivalent beginnen wollen. Stromversorger, die im Rahmen des vorgeschlagenen Ausschreibungsverfahrens H2-fähig-Gaskraftwerke bauen möchten, haben angedeutet, dass sie vor allem Standorte wählen würden, an denen blauer Wasserstoff verfügbar sein wird.

Deutschland hat das Ziel, bis 2030 etwa 70 Terawattstunden (2,1 Millionen Tonnen) grünen Wasserstoff zu nutzen. Die Verwendung von blauem statt grünen Wasserstoffs würde 2030 bis zu 15 Milliarden Euro einsparen und die erhoffte CO2-Minderung nur um 4 Millionen Tonnen schmälern.

Fokus auf Hafengebiete bei der Einführung

Zunächst ist die Einführung dieser kohlenstoffarmen Energieträger auf Hafengebiete zu konzentrieren, die sowohl See- als auch Binnenhäfen umfassen können. Dieser Ansatz bietet mehrere Vorteile:

  • Erstens sind Häfen die Orte, an den solche importierten Energieträger angelandet werden, und damit auch die logischen Startpunkte für Wasserstoff- oder Ammoniak-Pipelines.
  • Zweitens verfügen Häfen über ein industrielles Hinterland und entsprechende Infrastruktur, zum Beispiel für die Düngemittelproduktion oder die Ölraffination. Hier kann Ammoniak beziehungsweise Wasserstoff direkt als Ersatz für das graue Äquivalent verwendet werden, ohne dass hohe Investitionen in neue Anlagen erforderlich sind, wie es in der Stahlindustrie der Fall ist. Alternativ kann grünes Ammoniak zu Binnenhäfen verschifft werden, um dort in grünen Wasserstoff umgewandelt zu werden.
  • Drittens ist kein aufwändiges neues Pipeline-Netz notwendig, was einen viel schnelleren Start ermöglicht. Im Laufe der Zeit können Pipelines dann von den Häfen zu Industriestandorten im Landesinneren ausgebaut werden, die auf spezifischen Kundenanforderungen und nicht auf einem politischen Masterplan basieren.

Klassifizierung auf Basis des Lebenszyklus-CO2-Fußabdrucks

Da grüner Wasserstoff nicht komplett CO2-frei ist und die Bandbreite der Emissionen für die blaue Variante zwischen 1,2 und 3,9 kg CO2/kg H2 liegt, wäre es logisch, jede Quelle von kohlenstoffarmem Wasserstoff mit einer Kennzahl auszustatten, die den gesamten Lebenszyklus der CO2-Emissionen angibt. Eine solche Vorgehensweise wäre zielführender als die aktuelle politische Farbendiskussion und vermeidet die Illusion einer einfachen, binären Trennung zwischen den beiden Typen.

Im besten Fall liegt der CO2-Fußabdruck des blauen Produkts (1,2 kg CO2/kg H2) kaum höher als der von grünem Wasserstoff aus Solarenergie (1,0 kg CO2 /kg H2). Eine generelle Diskriminierung des blauen Produkts ist deswegen nicht berechtigt und würde zu erheblichen Mehrkosten für einen nur geringen umweltpolitischen Vorteil führen.

Die Qualifikation für eine öffentliche Förderung (beispielsweise durch EU-Hydrogen-Bank-Auktionen, H2Global-Auktionen oder durch Klimaschutzverträge) sollte von objektiv messbaren Kennziffern und nicht von politisch gesetzten Farben abhängig gemacht werden.

Die Erneuerbare-Energien-Richtlinien II und III anpassen

Zwei Bedingungen in den aktuellen Rahmenbedingungen für den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Europa sind nicht wirtschaftlich berechtigt beziehungsweise nicht realistisch und sollten angepasst werden, sobald die neue EU-Kommission ihr Amt antritt.

In der RED-II-Verordnung gibt es die Anforderung, dass die Wasserstofferzeugung kurzfristig mit den entsprechenden Stunden an Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zusammenhängen muss. Besser wäre es, einen solchen Ausgleich auf Monats- oder Quartalsbasis herzustellen, was dem gesamten Energiesystem mehr Flexibilität ermöglichen würde. Mit den aktuellen Restriktionen werden Stromversorger daran gehindert, ihre CO2-Emissionen selbst zu minimieren, da sie deswegen den Betrieb ihrer Kraftwerke nicht ganz optimieren können.

Noch offensichtlicher ist, dass aktuelle RED-III Bestimmungen sehr unrealistisch sind. Die restriktivste Anforderung ist, dass bis 2030 mindestens 42 Prozent des gesamten industriellen Wasserstoffverbrauchs aus erneuerbaren Energieträgern nicht biogenen Ursprungs (RFNBO) gedeckt sein müssen. Derzeit gibt es wenig Aussichten, dass entsprechend große Energiemengen zur Verfügung stehen werden. Schon gar nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen. Angesichts nur sehr geringer vorgesehener Subventionen oder zusätzlicher Zahlungsbereitschaften der Konsumenten droht hier ein neuer Markt gar nicht erst zu entstehen.

Darüber hinaus haben potenzielle Nutzer von grünem Wasserstoff keine wirkliche Klarheit, welche Quellen des Kraftstoffs genau als RFNBO gelten würden. Dies ist ein großes Hindernis für die Schaffung langfristiger Lieferverträge. Klarheit über die Quellen erneuerbarer Energieerzeugung ist auch wichtig für die beabsichtigten Klimaschutzverträge für die energieintensive Industrie. Die derzeitige Bestimmung in der Richtlinie hilft also nicht bei der Einführung grüner Kraftstoffe, sondern behindert sie eher.

Fazit: Pragmatismus statt Perfektionismus

Politik ist die Kunst des Möglichen, nicht des Wünschbaren. Es besteht aktuell keine realistische Aussicht, dass die Pläne für grünen Wasserstoff bis 2030 derzeit erschwinglich und umsetzbar sind.

Deswegen ist Pragmatismus gefordert, statt auf Perfektionismus zu warten. Nur dann kann Deutschland noch gut in den Wasserstoffhochlauf starten und die gesteckten Ziele erreichen.

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