Zwei Studien sind im vergangenen Jahr erschienen, die für Energie- und Industriepolitik von hoher Relevanz sind – und vermutlich noch zu wenig Beachtung gefunden haben. Denn aus ihnen lassen sich eindeutige Schlüsse bezüglich der richtigen Industriestrategie für Deutschland ziehen.
Zunächst erschien von der NGO Carbon Tracker ist die Untersuchung „The Sky’s the limit“ mit aussagekräftigen Ergebnissen über die potenziellen erneuerbaren Energiequellen verschiedener Länder im Vergleich zu deren aktuellem Energieverbrauch.
Die gute Nachricht: Dieses Verhältnis für die Welt als Ganzes ist einhundert zu eins. Die schlechte Nachricht: Die Ergebnisse wurden in vier Ligen aufgeteilt und Deutschland ist in der untersten Liga (als „herausgefordert“ eingestuft), da das Verhältnis hier nur zwei zu eins beträgt.
Im November erschienen die erweiterten und aktualisierten Ergebnisse des Langfrist-Szenario-Projekts des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima (BMWK). Dieses soll zeigen, wie Deutschland bis 2045 klimaneutral werden kann, in fünf verschiedenen Szenarien mit Fokus auf Elektrifizierung, Wasserstoff, Power-to-Gas oder anderen Varianten.
Die Botschaften der beiden Berichte liegen meilenweit auseinander. Der Carbon-Tracker-Bericht gibt implizit an, in welchen Ländern sich die Produktion grüner Energie und später grüner energieintensiver Produkte logischerweise konzentrieren wird. Deutschland steht im Schatten Australiens, der Amerikas, Afrikas und des Nahen Ostens.
Erhalt aller energieintensiven Industrien realitätsfern
Hingegen behauptet die BMWK-Studie, wie auch ähnliche gesamtsystematische Transformationsprojektionen der vergangenen Jahre, unter anderem, dass die energieintensive Industrie grundsätzlich erhalten bleibe, dass so viele Tonnen Stahl, Zement, Papier, Ammoniak, Kalk und Glas 2045 in Deutschland produziert werden wie heute.
Diese Annahme ist realitätsfern, da die Deindustrialisierung klar im Gange ist und durch die aktuellen Energiepreise nur beschleunigt wird. Vertreter der energieintensiven Industrie fragen sich verzweifelt, wie lange Deutschland noch Güter wie Stahl und Aluminium produzieren wird. Oder ob Batterien angesichts des energieintensiven Prozesses tatsächlich im Land produziert werden. Es bleibt nur ein schwacher Trost, dass eine Reduzierung der Industrieproduktion die Deckung des Energiebedarfs erleichtern würde.
Zwei weitere BMWK-Annahmen sind ebenfalls sehr fragwürdig: Erstens, dass die Ausbaurate von Erneuerbare-Energien-Anlagen erheblich erhöht wird, im Vergleich zu dem, was in den letzten fünf Jahren erreicht wurde. Eine ungefähre Verfünffachung der durchschnittlichen Expansionsrate ist aufgrund einer Reihe bekannter Faktoren völlig ausgeschlossen.
Und zweitens, dass Deutschland erhebliche Mengen an Ökostrom und Wasserstoff aus anderen europäischen Ländern beziehen könnte, die mit ihren eigenen Energieherausforderungen hadern. Viel wahrscheinlicher wird Wasserstoff von außerhalb des Kontinents kommen, worauf zum Beispiel die Absichtserklärungen von Covestro und Eon mit dem entfernten australischen Unternehmen Fortescue Future Industries stark hindeuten.
Was ist zu tun? Ein Sechs-Punkte-Plan
Das BMWK muss der bevorstehenden Deindustrialisierung und Realität der deutschen erneuerbaren Ressourcen ins Gesicht sehen und ein politisch schwieriges Szenario entwickeln, das eine realistische industrielle Perspektive in Einklang mit möglichen Energie- und Klimazielen bringt.
Diese könnten eine Grundlage dafür bilden:
1. Setzung realistischer Ziele für den Erneuerbare-Energien-Ausbau
Ein realistischer Plan für die zukünftige Energieversorgung ist die absolute Grundlage. Es ist richtig, die Ausbaurate der Erneuerbaren möglichst weit zu steigern, aber im Hinblick auf alle bekannten Hindernisse sind die impliziten Raten des BMWK nicht zu erreichen.
Eine einfache Fortsetzung der höchsten bisher erreichten Ausbauraten von Wind- und PV-Anlagen würde eine sichere Planungsgrundlage bieten. Das entspricht fast 200 Terawattstunden weniger Energie als im BMWK-Plan schon im Jahr 2030 erzeugt werden.
2. Optimale Nutzung der verfügbaren erneuerbaren Energien
Hauptziel der Energiewende sollte eine schnellstmögliche Dekarbonisierung sein. Daher muss erneuerbarer Strom dort eingesetzt werden, wo er am wertvollsten ist.
Die Kohleverstromung zu ersetzen, spart 0,9 Tonnen CO2 pro Megawattstunde ein, Elektroautos und Wärmepumpen zu versorgen, erreicht 0,7 Tonnen vermiedene Emissionen und bestimmte industrielle Prozesse direkt zu elektrifizieren und Wasserstoff herzustellen, reduziert den CO2-Ausstoß um 0,4 Tonnen pro MWh.
Bei realistischen Wachstumsraten für erneuerbare Energien ist es unwahrscheinlich, dass nach dem Ersatz der Produktion stillgelegter Kern- und Kohlekraftwerke genügend grüner Strom für alle wertvolleren Verwendungszwecke vorhanden ist, geschweige denn für die Wasserstoffproduktion.
Die Konsequenz ist klar, wenn auch unbequem, und steht in direktem Widerspruch zur Nationalen Wasserstoffstrategie: Bis es eine viel optimistischere Perspektive für erneuerbare Energien gibt, macht es Sinn, nur sehr bescheidene Wasserstoffmengen zu produzieren. Stattdessen sollte Deutschland das notwendige Volumen importieren und von den Lerneffekten in anderen Ländern profitieren, so wie die Welt vom deutschen PV-Ausbau profitiert hat.
3. Vorbereitung eines strategisches Industrieplans
Niemand bezweifelt, dass Deutschland in Zukunft auf große Mengen CO2-freier Energieimporte angewiesen sein wird. Da aber die Transportkosten für solche Energieträger hoch sind, sollte überlegt werden, ob es nicht wirtschaftlicher wäre, einen bestimmten Anteil grüner Produkte in Ländern mit viel besserem Erneuerbaren-Potenzial (die im Carbon Tracker Studie als „reichlich“ oder „superreichlich“ eingestuft sind) herzustellen und dann zu importieren.
Die Stärke der deutschen Industrie liegt zu einem großen Teil darin, dass das Land über eine Vielzahl von hochwertigen Produzenten verfügt, die gut miteinander verzahnt sind. Deswegen ist es wichtig zu bestimmen, welche Industriebranchen eigentlich „systemrelevant“ sind und einen höheren Wert haben als ihren reinen Mehrwert. Somit sollten zum Teil Wertschöpfungsketten auch dann im Land gehalten werden, wenn dies Subventionen erfordert.
Ein Industrieplan sollte deshalb bestimmen, wie eine gut integrierte Struktur bis 2045 (oder sogar früher) aussehen würde, wie viel heimische energieintensive Produktion die verfügbare grüne Energie unterstützen könnte und inwiefern grüne Energie oder stattdessen grüne Produkte importiert werden sollten.
4. Energieeffizienz stärken
Zu Recht wird behauptet, dass der 200 Milliarden Euro schwere „Doppel-Wumms“ zur Entlastung der Energiekunden bis April 2023 viel besser hätte angelegt werden können. Die Milliarden leisten keinen Beitrag zu einer langfristigen Beseitigung der Probleme.
Energiesparmaßnahmen sollten jetzt absolute Priorität haben, da sie sich in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig auszahlen: Verringerung des Drucks auf die Großhandelspreise, Verringerung der CO2-Emissionen, des Fußabdrucks der Energieerzeugung und des Verkehrs. Zudem verbessern sie die internationale Handelsbilanz.
5. Förderung der Akzeptanz von CCUS
Die derzeit mangelnde Akzeptanz von CO2-Abscheidung und -nutzung sowie -speicherung erschwert das Erreichen der wesentlichen Energie-, Industrie- und Klimaziele. Die Regierung muss daher alles daransetzen, dafür mehr Akzeptanz bei den Bürgern zu erreichen und die Folgen für Arbeitsplätze und Wohlstand klarer zu machen.
6. Entwicklung industrieller Partnerschaften mit energiereichen Ländern
Da Deutschland mit Sicherheit einen Teil der künftigen grünen Produkte importieren muss, ist es wichtig, Partnerschaften mit sorgfältig ausgewählten Ländern aufzubauen, die am oberen Ende des Carbon-Tracker-Rankings stehen. Sie müssen gleichzeitig Länder mit einem adäquaten Investitionsklima sein, wo Qualität und Liefersicherheit gewährleistet werden können.
Fazit
Die Regierung muss zwei unbequeme Wahrheiten anerkennen. Erstens die unvermeidliche Teildeindustrialisierung, zweitens die Begrenzung der Ausbaurate erneuerbarer Energien.
Die Deindustrialisierung wird entweder willkürlich und chaotisch verlaufen, oder sie wird strategisch gesteuert, in Einklang mit den verfügbaren Energiemengen gebracht und in Hinsicht auf die bestehenden internationalen Wettbewerbsrealitäten gestaltet.
Nur so kann die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland gesichert werden.
Graham Weale ist seit 2016 Professor für Energie an der Ruhr-Universität Bochum am Centrum für Umwelt, Ressourcen und Energie (CURE). Zuvor war er Chefvolkswirt bei der RWE AG.